Mauerschützenspiel: Ballerei oder Bildung?
MÜNCHEN - Man schießt auf DDR-Flüchtlinge und wird dafür belohnt. Oder auch bestraft. Das schon vor seinem Erscheinen umstrittene Mauerschützenspiel „1378km“ ist jetzt online. Die AZ hat es getestet
Der Himmel ist diesig und grau, Krähen kreisen über den Wachtürmen der Grenze. Durch das Fernglas beobachtet der Soldat den Maschendrahtzaun, minutenlang. Grenzsoldat der DDR, ein öder Job. Doch dann tut sich etwas: Durch ein Loch im Zaun kriecht ein bärtiger Typ im braunen Pullover. Maschinenpistole im Anschlag, zielen, feuern. Eine Kugelsalve zerreißt die Stille. Die Gestalt sinkt zu Boden, blutüberströmt liegt sie da, Arme und Beine von sich gestreckt. „1378 km“ heißt das Videospiel des Studenten Jens Stober, aus dem diese Szene stammt.
Der Titel bezieht sich auf die Länge der Grenze, die BRD und DDR trennte. Das aus Pixeln erbaute Szenario stellt einen deutsch-deutschen Grenzabschnitt aus dem Jahr 1976 nach. Der Spieler muss sich für eine Seite entscheiden: Entweder versucht er, als Flüchtling unbemerkt von den Grenzern die BRD zu erreichen. Oder er muss als Grenzsoldat die Flucht der DDR-Bürger verhindern. Natürlich darf geschossen werden. Eine heikle Spielidee.
Jens Stober studiert Medienkunst in Karlsruhe und erdachte das Spiel zum 20. Jahrestag der deutschen Einheit. Seine Idee: 1378 km „soll dazu dienen, einer jungen Generation mit Hilfe ihres Leitmediums interaktiven Zugang zur jüngsten deutschen Geschichte zu ermöglichen“. Ein „Serious Game“, das den Spieler nicht nur unterhält, sondern Inhalte vermitteln soll.
Eigentlich hätte das kostenlose Spiel bereits im Oktober erscheinen sollen, doch die Hochschule hielt die Veröffentlichung wegen der medialen Empörung zurück. Jetzt ist „1378 km“ online, jeder kann es herunterladen. Und die Empörung ist riesengroß. Darf man – wenn auch nur virtuell – DDR-Flüchtlinge abknallen?
Es funktioniert in 1378 km zumindest. Das Spiel sieht aus wie ein ganz normaler Ego-Shooter, basiert aber auf einem grundverschiedenen Prinzip. Denn im Vergleich zu herkömmlichen Ballerspielen gewinnt nicht der, der die größte Anzahl an Gegnern umbringt. Wer in „1378 km“ zu viel schießt, verliert.
Für die ersten beiden getöteten Flüchtlinge verleiht die Nationale Volksarmee dem Spieler noch einen Orden. Hat man den dritten Flüchtling exekutiert, landet man per Zeitreise im Jahr 2000 in einem Mauerschützenprozess und muss für einige Minuten pausieren. Außerdem steigt der außenpolitische Druck auf das DDR-Regime, das kostet Punkte. Doch für die Grenzer gibt es noch andere Optionen.
So kann der Soldat selbst zum Flüchtling werden, ihn verhaften oder laufen lassen. Doch im Spiel erfüllt „1378 km“ Stobers Anspruch, den Spieler in eine moralische Zwickmühle und ein beklemmendes Szenario zu versetzen, kaum. Dazu ist es zu dröge.
Die Darstellung ruckelt, die Umgebung mit immergleichen Baumstümpfen, Büschen und Türmen wirkt reichlich unrealistisch. Was daran liegen mag, dass die Basis des Spiels, der Ego-Shooter Half Life 2, inzwischen zehn Jahre alt ist und damit für Computerspieler völlig überaltet.
Falls Jens Stober mit „1378 km“ also eine junge Generation erreichen wollte, dürfte ihm das kaum gelingen. Denn die ist einfach andere Computerspiele gewohnt: detailreiche Grafiken, spannende Handlungen, Action. In der Spielwelt „1378 km“ dagegen steht man meist auf einer grasgrünen Wiese herum, und falls es den Mitspielern langweilig wird, schießen sie sich eine Runde gegenseitig über den Haufen. Die Neugierigen, die sich in das Spiel klicken, reagieren verständnislos. „Darüber regen sich die Medien so sehr auf?“, schreibt einer, „So ein Schrott, enttäuschend“ ein anderer. Hintergrundinformation? Gibt es nicht, bloß in den Wachtürmen kleben eine DDR-Fahne und das Foto eines Trabbi an der Wand. Also keine neuen Erkenntnisse.
Schon vor dem Erscheinen des Spiels hatte es von Opferverbänden und Politikern scharfe Kritik gegeben. „Sprechen Sie mit den Opfern und ändern Sie das Spiel ab“, bittet zum Beispiel Rainer Wagner die Macher.
Der Bundesvorsitzende der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft (UOKG) erzählt von seinen eigenen Fluchtversuchen über die Grenze, die zweimal im Gefängnis endeten. „Laden Sie das Spiel nicht ins Internet, und bieten Sie nicht die Möglichkeit an, auf Flüchtlinge zu schießen.“
Die Karlsruher Hochschule verteidigt Stober. „Das Konzept ist ethisch nicht angreifbar“, sagt Professor Heiner Mühlmann. „Man spricht hier von einer dramaturgischen Voreiligkeit: Der Spieler glaubt, beim Schießen auf Flüchtlinge Punkte zu machen, gehört dann aber nicht wie erwartet zu den Gewinnern.“ Sein Kollege Michael Bielicky: „Diese Arbeit ist ein Kunstprojekt, und die Kunst hat immer schon versucht, Grenzen zu überschreiten." Diese hätte man sich sparen können.Christoph Landsgesell
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