Interview

LMU-Forscher über die verheerenden Erdbeben: "Damit hat man nicht gerechnet"

Der Wissenschaftler Heiner Igel spricht über die Ursachen für das Beben und über die Wahrscheinlichkeit, dass so etwas hierzulande geschieht.
von  Ralf Müller
Jinderis in Syrien: Menschen gehen an eingestürzten Gebäuden vorbei. Die türkisch-syrische Grenzregion ist von dem Erdbeben schwer getroffen.
Jinderis in Syrien: Menschen gehen an eingestürzten Gebäuden vorbei. Die türkisch-syrische Grenzregion ist von dem Erdbeben schwer getroffen. © picture alliance/dpa/AP

AZ-Interview mit Heiner Igel: Der 55-jährige ist Professor für Geophysik und Seismologie am Department für Geo- und Umweltwissenschaften der LMU München. Einer seiner Schwerpunkte ist die Erforschung der durch Erdbeben verursachten seismischen Wellen.

AZ: Herr Professor Igel, war die Erdbebenkatastrophe in der Türkei und Nordsyrien vorhersehbar?
HEINER IGEL: In dieser Region rechnet man mit Erdbeben. In den letzten Jahren beobachtete man dort immer wieder Beben aber nur in einer Magnitude nahe Sechs. Die Schäden waren überschaubar. Das Beben der Stärke, wie es sich jetzt ereignete, erreichte fast Magnitude Acht - und es gab gleich zwei davon. Solche Beben hatten so lange in dieser Region nicht stattgefunden, dass man damit nicht wirklich gerechnet hat. Die letzten Beben dieser Stärke fanden wahrscheinlich vor 1.000 Jahren statt.

Heiner Igel: Professor für Geophysik und Seismologie am Department für Geo- und Umweltwissenschaften der LMU München.
Heiner Igel: Professor für Geophysik und Seismologie am Department für Geo- und Umweltwissenschaften der LMU München. © LMU

Wohl die gesamte Wissenschaftsgemeinde sagt ein schweres Erdbeben für die Mega-City Istanbul in den nächsten Jahrzehnten voraus. Hat das jetzige Beben damit etwas zu tun - könnte es ein Beben in Istanbul wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher machen?
Es sind zwei verschiedene Verwerfungssysteme aktiv. Im aktuellen Fall war es die ostanatolische Verwerfung. Bei Istanbul handelt es sich um die nordanatolische Verwerfung, die südlich von Istanbul durch die Marmara-See verläuft. Die beiden Verwerfungen hängen nicht direkt miteinander zusammen, allerdings kann ein so großes Beben den Spannungszustand anderer Verwerfungen beeinflussen. Das muss man im Nachgang analysieren.

"Ein Tsunami im Mittelmeer ist absolut möglich"

Das jetzige Beben könnte in der Region Istanbul für zusätzliche Spannungen im Untergrund gesorgt haben?
Oder auch für Entspannungen. Beides ist möglich.

Was bedeutet eigentlich Magnitude Acht? Das ist ja nicht einfach ein Viertel mehr als Magnitude Sechs...
Auch ein Beben der Magnitude Sechs kann sehr große Schäden anrichten. Wichtig zu wissen ist: Die Energie eines Magnitude-Acht-Bebens ist 1.000 Mal stärker als die eines Magnitude-Sechs-Bebens. Dazwischen liegt also ein Faktor 1.000 - und das ist gigantisch.

Das Erdbeben in der Türkei und Nordsyrien war nicht weit vom Mittelmeer entfernt. Könnte es in unserer Badewanne Mittelmeer auch einmal zu einem Tsunami kommen?
Das ist absolut möglich und auch historisch belegt. Es hat sehr große Tsunamis gegeben. Entlang des Mittelmeers von der Türkei, über Kreta, Zypern bis Italien gibt es Regionen, in denen große Erdbeben auftreten können. Tatsächlich ist die Gefahr von Tsunamis im Mittelmeer gegeben. Es gibt Projekte, die versuchen, dies zu quantifizieren und vorherzusagen, wo große Schäden auftreten können.

In Deutschland glaubt man sich vor Erdbeben sicher. Aber stimmt das auch? Wie stark war das stärkste bekannte Erdbeben in Deutschland?
Nicht ganz in Deutschland, sondern in der Region Basel ereignete sich im 14. Jahrhundert ein schweres Erdbeben. Es war das stärkste nördlich der Alpen mit sehr großen Schäden und Auswirkungen. Im 18. Jahrhundert geht man von einem Beben im Kölner Becken mit einer Magnitude von annähernd Sechseinhalb. Auch dies verursachte erhebliche Schäden. Wir haben durchaus das Potenzial für Schadensbeben in Deutschland. Allerdings sieht es so aus, als ob die Wiederkehr-Zeiträume sehr groß sind.

"Gänzlich kann man schwere Erdbeben auch hierzulande nicht ausschließen"

Welches sind die gefährdeten Gebiete in Deutschland?
Das Kölner Becken und der Oberrhein-Graben. Eine erhöhte seismische Aktivität gibt es auf der Schwäbischen Alb - im Bereich Albstadt/Balingen. Das sind die gefährdeten Regionen.

Sind schwerste Beben wie jetzt in der Türkei hier grundsätzlich auszuschließen?
Gänzlich kann man sie nicht ausschließen. Insbesondere im Oberrhein-Graben wird nach Indizien für sehr große Beben gesucht, die in prähistorischer Zeit stattgefunden haben. Soweit ich weiß, ist man da aber nicht fündig geworden. Es gibt im Moment keine Indizien für solche große Beben in Deutschland.

Ist denn in Deutschland für Erdbeben - auch leichtere - bessere bautechnische Vorsorge getroffen als es offensichtlich in der Türkei der Fall ist?
Das ist der Fall. Es gibt eine verstärkende DIN-Norm für Gebäude in Regionen mit erhöhter Seismizität.

"Erdbebensicher bauen ist möglich, aber schwierig"

Solche Vorschriften gibt es in der Türkei auch. Traten diese große Schäden also vor allem deshalb auf, weil sich viele nicht an die Bauvorschriften gehalten haben?
Beim Erdbeben in Istanbul im Jahr 1999 hat man gesehen, dass die Baumasse nicht dem entsprach, was vorgeschrieben war. In der jetzt betroffenen Region hat man mehrstöckige Häuser gebaut, die extrem gefährdet sind. In Kalifornien zum Beispiel hat man entweder Fertigbauhäuser mit Holzrahmen, in denen man überleben kann, auch wenn sie zusammenfallen. Oder es gibt dort Hochhäuser, die so gebaut sind, dass sie Schwingungen aufnehmen können. Erdbebensichere Bauweise ist im Prinzip möglich, aber schwierig und es erfordert erhebliche Mittel.

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