„Lieber Farmville als Psychopharmaka“
Schweine züchten, Getreide säen, Äpfel ernten: In der Online-Simulation „Farmville“ können Großstadtmenschen und Tierhaarallergiker so tun, als seien sie in der Landwirtschaft tätig
„Kommst du mit in die Kantine?“ – „Nein, ich muss noch meine Kühe melken und Weinreben pflanzen!“ Haben sich solche Gespräche bis vor kurzem noch eher in geschlossenen Abteilungen abgespielt, gehören sie heute auch in großen Versicherungen, Werbeagenturen oder Anwaltskanzleien zum üblichen Büro-Ton. Dafür gesorgt hat „Farmville“, eine der erfolgreichsten Computer-Simulationen aller Zeiten.
Das, was der US-Politiker Henry M. Morgenthau nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland zwangsweise einführen wollte, eine Re-Agrarisierung, geht zurzeit höchst freiwillig vonstatten: Vor allem im Dienstleistungssektor widmen sich täglich immer mehr Menschen ihrem virtuellen Bauernhof, säen und ernten per Mausklick. Weltweit sind über 60 Millionen dabei – nach nur vier Monaten.
Mitmachen kann jedes Mitglied der Online-Community „Facebook“. Das Prinzip ist denkbar simpel: Der Spieler schlüpft in die Rolle eines Bauern und bewirtschaftet ein Stück Land: züchtet, pflanzt, erntet, melkt, schert, verkauft und investiert neu.
Um sich herum soll man möglichst viele Nachbarn gruppieren, andere Facebook-User, die dann Besuche abstatten oder auch mal unbürokratisch mit einem Schwein aushelfen. Spezielle Häuser und Dekorationen können allerdings nur mit einer Sonderwährung namens Farmville-Dollar bezahlt werden, für die man per Kreditkarte blechen muss – die Mehrheit macht lieber kostenlos mit.
„Irgendjemand muss doch die Erdbeeren ernten!“
Befragt man einen Cyber-Agronomen nach der Faszination der Simulation, wird das Suchtpotenzial teilweise erschütternd deutlich: „Irgendjemand muss doch die Erdbeeren ernten – oder übernimmst du das?!“, heißt es fast etwas gereizt. Bei „Farmville“ vergehen nämlich je nach Saatgut zwischen zwei Stunden und vier Tagen bis zur Reife. Dann muss man schnell tätig werden – sonst verwelkt alles. Manche verzichten sogar auf ihre Mittagspausen, um rechtzeitig die Zitronen zu pflücken.
„Eine virtuelle Flucht aus dem hektischen Großstadtleben“ sieht Thomas Knieper, Professor für Medienwissenschaft an der Technischen Universität Braunschweig, in „Farmville“. „Aber genau dieser Ansatz der heilen Landwirtschaftswelt stört mich. Hier läuft irgendwie alles nach dem Vorbild ,Unsere kleine Farm’ mit Michael Landon und Karen Grassle ab. Interessant wird es doch erst, wenn man die Aspekte Subventionssumpf und Genmanipulation einführt“, so Knieper.
Nie habe er für möglich gehalten, dass „so viele Menschen ihre Stimmung über ein derart zucker-süßes Online-Spiel regeln“. Aber: „Lieber Farmville als Psychopharmaka. Wobei ,Pharmville’ auch ein interessantes Spiel wäre.“
Timo Lokoschat
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