Lebenslang Opfer: 40 Jahre nach der Oetker-Entführung

Bielefeld/Freising - Richard Oetker ist ein Baum von einem Kerl. Der Chef des Oetker-Konzerns in Bielefeld misst fast zwei Meter. Wenn er den Raum betritt, nimmt er seine Gesprächspartner sofort für sich ein. Der oberste Manager des Familienkonzerns aus Ostwestfalen ist eine beeindruckende Persönlichkeit. Neben der Geschichte des Firmenmanagers gibt es dabei noch die des Entführungsopfers.
Am 14. Dezember 1976 wurde Richard Oetker als 25-Jähriger entführt. Er ist davon bis heute gezeichnet. Noch 40 Jahre danach leidet er körperlich unter den schweren Verletzungen, die ihm der Entführer Dieter Zlof bei einem der spektakulärsten Kriminalfälle der deutschen Nachkriegsgeschichte zugefügt hatte. Oetker kann nicht lange laufen und stehen. Vor der Präsentation der Bilanzzahlen für 2015 stürzte er im Juni beim Verlassen seines Wohnhauses. Sein Stuhl bei der Pressekonferenz blieb leer.
21 Millionen D-Mark Lösegeld
Oetker hat immer betont, wie er und die Familie unter der Tat gelitten haben. Auch noch Jahre später. Beim Prozessauftakt 1980 erlebte er einen dieser Momente. Zu Beginn sprachen alle Medienvertreter noch mit dem prominenten Entführten aus der Oetker-Dynastie. Als Zlof dann in den Saal geführt wurde, wendeten sich alle Journalisten wort- und grußlos von ihm ab und wollten nur noch mit dem Täter sprechen. "Das hat ihn damals tief getroffen und erklärt, warum er bis heute gegenüber den Medien ein eher distanziertes Verhältnis hat", sagt ein Vertreter aus dem Konzern-Umfeld.
Oetker studierte in Bayern Brau- und Agrarwissenschaften. Frisch verheiratet entführt ihn Zlof 1976 auf dem Parkplatz der Uni Weihenstephan bei München, hält ihn 47 Stunden in einer engen Holzkiste gefangen und gibt ihn frei, nachdem die Familie 21 Millionen D-Mark, rund 10,7 Millionen Euro, gezahlt hat. Zlof, der 1980 zu 15 Jahren Haft verurteilt wird, hat Oetker mit einer perfiden Technik in Schach halten wollen. Gekrümmt in der Kiste ist das Opfer mit Handschellen gefesselt an einen Stromkreislauf angeschlossen. Sein Peiniger droht ihm: Bei Krach oder Hilferufen gibt es einen Stromstoß.

Beim Prozess gegen Dieter Zlof (Mitte) wird ein Nachbau der Kiste präsentiert, in die Richard Oetker gesperrt worden war. Foto: dpa
Ein Stromstoß bricht Oetkers Knochen
Das passiert auch, allerdings wegen einer Panne. Der Automechaniker Zlof macht beim Öffnen der Versteckgarage versehentlich Krach. Der ausgelöste Stromschlag ist zehnmal stärker als geplant und bricht Oetker zwei Brustwirbel und beide Oberschenkelhalsknochen. Er gerät wegen einer Lungenquetschung in Lebensgefahr. Obwohl er mehrmals operiert wird, ist er den Rest seines Lebens gehbehindert.
Der Geldbote ist Richards Bruder August. Der Entführer entreißt ihm den Koffer und entkommt. Wenig später wird das schwer verletzte Opfer in einem Wald in einem alten Auto gefunden.
Die Polizei fasst Zlof zwei Jahre später, weil er registrierte Scheine bei seiner Hausbank einzahlt. Vor Gericht streitet er die Tat ab. Nach der Haft will er seine Beute heben, die er in Plastiksäcken vergraben hat. Ein großer Teil ist jedoch verrottet. Als er 1997, 21 Jahre nach der Entführung, in London versucht, Tausend-Mark-Scheine umzutauschen, wird Zlof erneut verhaftet: zwei Jahre Haft wegen Geldwäsche.
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"Alptraum, dass der Entführer das Geld genießen könnte"
"Unser Alptraum war, dass der Entführer das Geld nach seiner Haft genießen könnte", sagte Richard Oetker vor zehn Jahren der Deutschen Presse-Agentur. Darum setzt er alle Hebel in Bewegung, um Zlof aufzuspüren. Es sei eine bemerkenswerte Zusammenarbeit mit der Polizei gewesen, sagte er damals. "Ich habe daraus gelernt, nicht verbissen, aber kontinuierlich ein Ziel zu verfolgen."
Seit Jahren engagiert sich der Sohn des früheren Konzernchefs Rudolf August Oetker für die Opferseite. Seit 2002 ist er im Vorstand des Opferschutzvereins Weißer Ring. "Oft haben Opfer nach der Tat das Gefühl, dass ihnen sprichwörtlich der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Wichtig ist dann, sie spüren zu lassen, dass sie in ihrer Not nicht allein sind", sagt Bianca Biwer, die Bundesgeschäftsführerin des Vereins.
Zehn Entführungsopfer meldeten sich 2015 bei ihrer Organisation und baten um finanzielle Hilfe. 2016 waren es bis September zwei. Die Statistik aber führt nur die Opfer auf, denen der Weiße Ring finanziell unter die Arme gegriffen hat. Die Zahl der Entführungsopfer liegt deutlich höher. 2015 waren es laut Bundeskriminalamt 68. Die Tendenz ist rückläufig.
Heutzutage werden E-Mail statt Erpresserbriefen verschickt
Das bestätigen Experten bei der Polizei. "Dafür hat sich die klassische Vorgehensweise geändert. Erpresserbrief oder Anrufe bei der Opferfamilie gibt es immer weniger", sagt ein Experte des Landesamtes für Zentrale Polizeiliche Dienste in Nordrhein-Westfalen. Der Kontakt mit den Tätern laufe heute fast ausschließlich über verschlüsselte E-Mail-Server. "Da sind unsere Ermittlungsmöglichkeiten eingeschränkt."
Dafür hätten sich seit den Entführungen von Oetker und des Hamburger Sozialforschers Jan Philipp Reemtsma (1996) die Betreuung der Opfer und die Verhandlungsführung der Polizei deutlich professionalisiert. "Verhandlungsgruppen sind feste Bestandteile der Spezialeinsatzkräfte. Sie kommen nicht nur bei Entführungen, sondern auch bei häuslicher Gewalt, Bedrohungen oder Erpressungen ins Spiel."
Gerhard Böckmann von der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster-Hiltrup bildet die Beamten aus. "Die Technik hat sich auch bei den Kriminellen weiterentwickelt", sagt er. "Heute reden wir nicht mehr von persönlichen Geldübergaben im Koffer, sondern von Online-Überweisungen auf Konten im Ausland."