Leben in Schutt und Asche

Schnee und Kälte stehen in den Erdbebendörfern in Mittelitalien bevor. Einen Monat nach dem schweren Erdstoß wohnen viele Menschen immer noch in Zelten.
von  Annette Reuther/dpa
Diese Aufnahme könnte auch aus einem Kriegsgebiet stammen. Es ist der Stadtkern von Amatrice, jetzt „zona rossa“, also Sperrgebiet.
Diese Aufnahme könnte auch aus einem Kriegsgebiet stammen. Es ist der Stadtkern von Amatrice, jetzt „zona rossa“, also Sperrgebiet. © dpa

Schnee und Kälte stehen in den Erdbebendörfern in Mittelitalien bevor. Einen Monat nach dem schweren Erdstoß wohnen viele Menschen immer noch in Zelten.

Sergio Pirozzi sagte vor einem Monat mitten in der Nacht jenen entscheidenden Satz: „Den halben Ort gibt es nicht mehr.“ Der Bürgermeister der kleinen italienischen Stadt Amatrice hat nicht übertrieben – im Gegenteil. Auch einen Monat nach dem schweren Beben in der Region Latium liegt der Ort noch in Schutt und Asche. Von den insgesamt 297 Todesopfern in Mittelitalien kamen 230 aus Amatrice.

Pirozzi sitzt in einem improvisierten Büro, in einem Container vor den Toren des historischen Zentrums. Hier, im „Operationszentrum“, laufen alle Fäden zusammen. Am Vortag hatte es erneut ein Nachbeben gegeben, Stärke mehr als vier. Informationen laufen ein, ob es neue Schäden gibt. Routine hier.

„Nach jeder Niederlage kommt ein Neuanfang“, sagt der Bürgermeister, ein großer, entschlossener Mann mit tiefer Stimme, der gerne im Sweatshirt mit dem Schriftzug „Amatrice“ auftritt. „Ich habe keine Angst. Man darf nicht warten, dass einer kommt und einem hilft, man muss es selbst angehen.“ Das Ziel des ehemaligen Fußballtrainers: Der Ort – bekannt für seine Spaghetti all’Amatriciana mit Tomaten und Speck – soll wieder so aufgebaut werden, wie er war. „Ich will nicht, dass sich die Leute für immer als Erdbebenopfer fühlen.“

Ins Sperrgebiet darf nur der, der eine spezielle Erlaubnis hat

Aber wie das zu schaffen ist, ist unklar. Das historische Zentrum ist vollkommen zerstört. Der einst pittoreske Stadtkern ist „zona rossa“ – Sperrgebiet. Herein darf nur der, der eine spezielle Erlaubnis hat. Die Polizei hält Neugierige und Pseudoexperten ab. Zwischen den Trümmern steht fast trotzig der Uhrenturm der Stadt, der Zeiger ist auf 3.38 Uhr stehengeblieben – dem Zeitpunkt des Erdbebens.

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Wenn die Häuser nicht komplett zu Schutthaufen zusammengestürzt sind, dann stehen sie nur noch halb. Löcher klaffen in den Wänden, zu sehen sind Tische, auf denen noch Weingläser vom Vorabend jenes 24. Augustes standen, bevor die Erde sich aufbäumte. Viele Bewohner haben nicht nur ihren gesamten Besitz verloren, sondern auch Freunde, Kinder, Eltern, Oma, Opa, Nichten, Neffen.

Wie soll auf diesem Ort des Todes etwas Neues entstehen? Soll eine neue Stadt ganz aus Holz hier erbaut werden, wie einige vorgeschlagen haben?

Einen Teil der Antwort will Regierungschef Matteo Renzi am heutigen Freitag geben, wenn er den Plan des Wiederaufbaus vorstellt. Als erstes müssen aber Übergangswohnungen entstehen, bevor der wirkliche, jahrelange Wiederaufbau beginnen kann.

Das Erste ist nun, dass die Zeltstädte wegkommen“, sagt Bürgermeister Pirozzi und legt einen Einsatzplan vor, der von diesem Freitag an gilt und zeigt, wie die Leute künftig untergebracht werden: Sie sollen in Hotels und Unterkünften in anderen Gemeinden wohnen.

Oder in noch stehenden Wohnungen in Amatrice, meist von Leuten, die hier ein Ferienhaus haben und es nicht selbst dauerhaft nutzen. In vielen Häusern, die noch stehen, darf zudem noch niemand wohnen: Denn erst muss ein Techniker das Okay geben. Und die Liste für die Überprüfung der Häuser ist lang.

Das Wetter in der Apennin-Gebirgsregion wird bereits kritisch

Die Zeit drängt, das Wetter wird kritisch. In der Apennin-Gebirgsregion kann es auch schon im September oder Oktober schneien. Zu kalt für die Nächte im Zelt. „Wir sind keine Tiere, wir befinden uns auf tausend Höhenmetern“, sagt Bürgermeister Pirozzi mit Blick auf den nahenden Winter. Er treibt die Leute an – Hunderte sind es noch – die Zeltstädte zu verlassen, damit dort neue Übergangs-Häuschen entstehen können.

An jenem Tag scheint die Sonne auf die blaugrauen Zelte. Drinnen ist es stickig. Auf Feldbetten liegen Wolldecken. Kleine Heizkörper sollen nachts wärmen, wenn die Temperaturen auf unter fünf Grad sinken. In der Zeltstadt der Wohltätigkeitsorganisation Anpas, einer Partnerorganisation des deutschen Arbeiter-Samariterbundes, sind etwa 140 Menschen aus Amatrice untergekommen, darunter auch mehrere Kinder.

Die Helfer haben sich große Mühe gegeben, dass die Opfer so „normal“ wie möglich leben können. Aber was heißt schon normal unter solchen Umständen? Fotos dürfen nicht gemacht werden, nur von den Zelten von außen. Auch mit den Betroffenen soll die Presse nicht sprechen. „Wir wollen ihnen Privatsphäre geben“, sagt Conte.

Wie lebt es sich, wenn man nicht mehr selbst einkaufen gehen kann? Es gibt kein Restaurant, keinen Laden, keinen Friseur. „Nichts ist mehr, wie es einmal war“, sagt ein Mann vor dem Lager, der sich nicht fotografieren lassen und auch seinen Namen nicht publik machen will. „Aber ich will nicht weg, das würde mir das Herz brechen.“ Annette Reuther

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