Kriminalpsychologe: "Kannibalismus ist eine Spielart der Sexualität"
München - AZ-Interview mit Prof. Dr. Rudolf Egg: Der gebürtige Nürnberger ist Kriminalpsychologe und war früher Leiter der Kriminologischen Zentralstelle des Bundes und der Länder in Wiesbaden.

AZ: Herr Egg, in Berlin soll ein Kannibale einen Mann verspeist haben. Der Verdächtige ist Mathelehrer. Erkennt man einen Menschen mit solchen brutalen Fantasien an bestimmten Verhaltensweisen oder läuft er unscheinbar durch die Stadt?
RUDOLF EGG: Das Letztere. Kannibalismus muss man sich als sexuelle Abweichung vorstellen. In der Psychologie nennen wir es Präferenzstörung. Wer eine solche sexuelle Störung hat, will zum Beispiel Sex mit Kindern haben, mit sehr alten Menschen oder gar mit Gestorbenen. Beim Kannibalismus empfindet derjenige die höchste sexuelle Lust, wenn er jemanden töten und aufessen kann. Menschen mit dieser Neigung wissen natürlich, dass das etwas Ungewöhnliches und auch Strafbares ist. Sie werden versuchen, es zu verbergen - außer eben vor Menschen, von denen sie denken, sie können die Vorliebe mit ihnen teilen.
Der Verdächtige in Berlin soll zuvor auf einschlägigen Foren im Internet unterwegs gewesen sein. Fördert das Netz solche Fantasien?
Das Internet befördert nicht Kannibalismus, aber die Art und Weise, sich darüber zu äußern. Vor 50 Jahren hätte keiner eine Anzeige in der Abendzeitung schalten können, dass er Männer sucht, die sich schlachten lassen. Aber im Internet können Sie jetzt jeden Blödsinn schreiben. Auch der "Kannibale von Rotenburg", Armin Meiwes, hat solche Foren besucht. Dabei weiß man nie: Wie viele Menschen dort meinen es ernst und für wen ist es nur ein erotisches Spiel, ohne es wirklich so zu meinen?
"Bei Kannibalismus geht es um Erwachsene"
Wie ist Meiwes bei der Opfersuche vorgegangen?
Ich habe damals die Einträge von ihm gefunden, er schrieb: "Ich suche junge Männer zwischen 18 und 30 Jahren, die sich schlachten lassen wollen." Im Prozess bestätigte sich, dass das seine Präferenz war. Er wollte keine Frauen, keine alten Männer, sondern junge knackige.
Die Auswahl der Opfer ist also nicht wahllos?
Nein, es muss eine Person sein, die dem Kannibalen attraktiv genug erscheint. Bei Meiwes kam noch dazu, dass er es einvernehmlich haben wollte. Die meisten in anderen Fälle wollten dagegen die Opfer heimtückisch umbringen. Meiwes hingegen suchte ein Opfer, das sich bereiterklärt und es auch genießt, aus dem Leben zu scheiden mit dem Wissen, dass er ihn aufessen wird. Er hat damals so eine Person gefunden - und hätte wohl auch noch mehr gefunden. Bei Kannibalismus geht es übrigens um Erwachsene. Mir ist kein Fall bekannt, in dem jemand ein Kind essen wollte. Aber ausschließen kann man nichts.
Was löst einen Hang zum Kannibalismus aus? Gibt es ein Schlüsselerlebnis?
Das ist ganz schwer zu beantworten. Es entwickelt sich, es ist keine freie Wahl. Irgendwann stellt man fest: Das stimuliert mich.
"Es ist eine Spielart der Sexualität"
Ist es ein Ersatz für Sex?
Es ist eine Spielart der Sexualität.
Was geht dabei in den Tätern vor?
Ich sage, man kann sexuelle Abweichungen nur verstehen, wenn man normale Sexualität versteht. Auch dort gibt es den Wunsch, sich zu vereinen, ganz eins zu sein, ineinander aufzugehen, sich zum Fressen gern zu haben - diesen Wunsch haben viele Paare. Natürlich geht das dann nicht so weit, etwas vom anderen zu essen. Kannibalen dagegen gehen einen Schritt weiter und wollen das nicht nur symbolisch haben, sondern wirklich.
Gibt es auch Kannibalinnen?
Ausschließen kann man es nicht, aber es sind eher Männer als Frauen.
Meiwes hätte weitere Opfer gesucht, wäre er nicht aufgeflogen. Heißt das: Es einmal auszuprobieren, reicht nicht aus?
Es war Meiwes' Präferenz und ist es übrigens immer noch. Das wird ihm bleiben, er kann es nicht einfach abstellen. Das Einzige, was zu hoffen bleibt, ist, dass er sie nicht mehr ausleben will.
"Er möchte nicht ertappt werden und auch nicht damit prahlen"
Gibt es eine Therapie?
Nicht in dem Sinne, dass es verschwindet und nicht mehr da ist. Sondern dass die Person die Einsicht hat, dass damit großes Elend hervorgerufen wird, und sie es deswegen kontrolliert.
Beim Verdächtigen in Berlin wurden eine Knochensäge und Chemikalien gefunden - wie spontan beziehungsweise im Affekt passiert eine kannibalische Tat?
Das ist das Ergebnis einer längeren psycho-sexuellen Entwicklung. Es wird nicht so laufen: "So, jetzt habe ich mal Lust, einen Menschen zu essen." Man kann auch nicht so betrunken sein, dass man sowas auf einmal macht. Das muss schon länger im Kopf, in der Fantasie sein. Es kann zum Beispiel sein, dass sich derjenige entsprechende Bilder anschaut und dabei masturbiert. Und die Täter müssen auch überlegen, wie sie es überhaupt machen, und: wohin mit der Leiche?
Beim aktuellen Fall wurden abgenagte Überreste recht schnell im Wald entdeckt. Wollen Kannibalen nach der Tat dann doch aufliegen?
Er möchte nicht ertappt werden und auch nicht damit prahlen. Es ist ja sein Geheimnis. Aber es gibt - wie bei allen Mördern - das Problem mit der Leiche.
Ließen sich Foren für Kannibalen nicht besser kontrollieren, damit es gar nicht soweit kommt?
Das ist schwer, denn Sie müssten wissen, wer meint es ernst und wer nicht. Selbst wenn sich die Polizei in solche Foren begibt, dürfte es schwer sein zu erkennen, wer es nur als Kopfkino betreibt und wer es umsetzen will.
Drei Formen von Kannibalismus
Sexueller Kannibalismus: Eine Störung der sexuellen Präferenz - das ist dem Kriminalpsychologen Rudolf Egg zufolge die zentrale Ursache für Kannibalismus. Der wohl berühmteste Fall Deutschlands ist der vom "Kannibalen von Rotenburg". Armin Meiwes wurde 2006 zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, er sitzt in Kassel ein. Er hatte über das Internet ein Opfer gesucht, ihm den Penis abgetrennt und ihn anschließend gegessen. Sein Opfer, Bernd Jürgen Brandes, soll der Tat zuvor zugestimmt haben.
Religiöser Kannibalismus: Vor Jahrhunderten gab es zudem die Annahme, dass man das Wissen und die Seele eines Verstorbenen oder auch eines toten Besiegten aufnehmen könne, indem man sein Gehirn aß, so Egg. In Südamerika etwa entstanden solche Vorwürfe, von Kannibalen-Stämmen war die Rede. Historiker nahmen an, dass diese Gerüchte auch als Vorwand dafür genutzt wurden, um die Ureinwohner zurückzudrängen.
Not-Kannibalismus: Kannibalismus, um dem eigenen Hungertod zu entgehen: Nach einem Absturz in den Anden etwa standen die Überlebenden im Jahr 1972 vor der Wahl: die toten Passagiere essen und überleben - oder selbst sterben.