Krank vor Heimweh: Überall und nirgends

Heute hier, morgen da: In vielen Berufen geht es ohne Mobilität und Flexibilität gar nicht mehr. Doch mit dem Leben aus dem Koffer kommt das Heimweh – und es macht immer mehr Menschen krank. Was Experten raten.
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Heute hier, morgen da: In vielen Berufen geht es ohne Mobilität und Flexibilität gar nicht mehr. Doch mit dem Leben aus dem Koffer kommt das Heimweh – und es macht immer mehr Menschen krank. Was Experten raten.

Anfangs sagten ihre Eltern noch, das wird schon. Wirst dich schon gewöhnen an Bremen. Ist immer erstmal schwer , wenn man weg geht von daheim. Aber Melanie (22) gewöhnte sich nicht. Nicht an die Sprache, so viel kühler als daheim in Rosenheim. Nicht an den Lärm, die Studentenbude ohne Garten, Frühstück ohne Brezn, Studieren ohne die Freunde, Abendessen ohne die Geschwister. Sie weinte viel. Schlief schlecht. Litt unter Kopfweh, Magenkrämpfen, plötzlichen Panikattacken.

Nach zwei Jahren wusste sie, warum: Heimweh-Krankheit, diagnostizierte eine Psychotherapeutin. Gibt’s das wirklich, krank vor Heimweh?

Gibt es. Es ist das Gefühl, nicht da anzukommen, wo man lebt, fremd zu bleiben, die Angst, entwurzelt zu sein. Soziologen nennen es „Dis-Embedding“ – das zermürbende Gefühl, überall und nirgends zuhause zu sein. Immer mehr Menschen in Deutschland leiden daran, hat Psychotherapeutin Ernestine Wohlfart festgestellt, die an der Berliner Charité heimweh-kranke Menschen behandelt.

Erstaunlich ist das nicht. Sechs Mal im Leben wechselt ein Akademiker im Schnitt mit dem Job auch den Wohnort. Für Studenten gehören ständige Umzüge heute zum Alltag: Semester im Ausland, Praktika in vielen Städten. Wer Karriere machen will als Manager, Vertriebschef, Berater, muss mobil sein: Heute München, morgen Hamburg, übermorgen Paris, New York oder Dubai – das betrifft nicht nur Stewardessen und Piloten. Abends wartet keine Familie, aber immer und überall Sehnsucht.

Heimweh kann sich auf viele Arten äußern. Vom bitteren Sehnsuchtsgefühl über Gefühlskälte oder Aggression bis zur psychischen Krise. Manche Betroffenen fühlen sich antriebsschwach, andere klagen über Bauch- und Kopfschmerzen oder Schlafstörungen, viele fallen in Depressionen oder enden im Burn-Out.

Peter S. (43), Tunnelbauer aus Köln, seit 20 Jahren beruflich zwischen Asien und Europa unterwegs und oft sechs Monate am Stück weg von daheim, beschreibt seine Heimweh-Attacken als „totales Verlassenheitsgefühl. Das Schlimmste aber ist die Sinnkrise. Wozu mache ich das alles überhaupt?“

Was hilft raus aus dem Kranksein? „Die Werte-Hierarchie klären und das Leben umwerten“, rät Psychologe Stefan Lermer. Man müsse sich fragen: „Was ist mir wichtig? Will und brauche ich diese berufliche Betätigung? Will ich das Geld verdienen?“ Wenn die Antwort Ja sei, so Lermer, „fällt es plötzlich leicht, zu akzeptieren, dass es eben nicht anders geht“. Die Erkenntnis, dass der Job Berufung ist und die Anerkennung wichtig ist, „kann ein enormer Ausgleich sein zu den Nachteilen des Nomadenlebens.“

Jungen Leuten, die ihr Elternhaus vermissen, empfiehlt er einen Perspektivenwechsel: „Ich muss gar nicht hier sein, ich darf hier sein! Und jetzt mache ich mich neugierig auf die Suche nach Abenteuern.“

Leicht ist das nicht. Zumal sich, auch krisenbedingt, just ein Gegentrend zum Mobilsein ausbreitet: „Während die Wirtschaft immer größere Räume vernetzt, suchen die Menschen immer kleinere, in denen sie Zugehörigkeit entwickeln“, formuliert es Soziologe Ralf Dahrendorf.

Die Folge: Viele Menschen pendeln weite Strecken zur Arbeit. Mehr als jeder Zweite bleibt laut einer Online-Umfrage lieber am Heimatort, obwohl die Karriereaussichten anderswo besser sind. Auch in einer aktuellen Studie des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) unter Menschen auf Jobsuche erklärten zwei Drittel: Ja, lange Arbeitswege können sie sich vorstellen. Auch ungünstige Arbeitszeiten. Jobs, für die sie überqualifiziert sind. Aber wegziehen von daheim? Nein, bitte das nicht. Heimweh ist einfach keine Option. Irene Kleber

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