Intensivpfleger und Autor Ricardo Lange: "Hinter uns gibt es keine zweite Reihe"
AZ-Interview mit Ricardo Lange: Der 40-jährige Berliner arbeitet seit 2012 als Intensivkrankenpfleger. Öffentlich bekannt wurde er durch seinen Auftritt bei einer Pressekonferenz mit dem damaligen Gesundheitsminister Jens Spahn und RKI-Chef Lothar Wieler im April 2021.
Ricardo Lange: Nach verschiedensten Berufen zur Pflege
AZ: Herr Lange, als Intensivpfleger sind Sie ein "Spätberufener": Gelernt haben Sie Gas- und Wasserinstallateur, waren bei der Polizei, haben als Fitnesstrainer und Ernährungsberater gearbeitet. Warum dann die Pflege?
RICARDO LANGE: Handwerker ist ein wichtiger Beruf, ohne den wir auch alle aufgeschmissen wären – aber für mich persönlich war es nichts. Bei der Polizei wurde ich aufgrund meines verminderten Hörvermögens kurz vor Ende der Ausbildung untauglich geschrieben. Fitness ist schon seit der Schulzeit ein wichtiger Teil meines Lebens, aber sich nur darum zu kümmern und Ernährungsberatung zu machen, war mir irgendwann zu einseitig. Dann kam es, dass ich selbst ins Krankenhaus musste und operiert wurde und die Krankenpflege am eigenen Leib beobachten durfte. Da habe ich mich gefragt: Mensch Ricardo, warum wirst du nicht Krankenpfleger?
Inzwischen sind Sie seit zwölf Jahren Intensivpfleger. Was sind die größten Herausforderungen in Ihrer täglichen Arbeit – und was hat sich mit der Corona-Pandemie verändert?
Verschlimmert hat sich natürlich die Personalnot. Es haben viele den Job gekündigt oder sind in andere Bereiche gewechselt. Es kommt auch immer wieder vor, dass Kollegen wegen Corona ausfallen. Und es ist klar, dass, wenn zu all den anderen Patienten noch Corona-Infizierte hinzukommen, die isoliert werden müssen, das einen noch höheren Arbeitsaufwand bedeutet.
Personalmangel in der Pflege missachtet: Viel Frustration
Und das bei weniger Personal.
Genau. Deswegen bin ich auch genervt von dieser öffentlichen Debatte à la: Naja, der ist ja nicht wegen Corona da. Wir haben ganz oft Patienten, die als Nebendiagnose Corona haben. Aber das ändert ja nichts daran, dass auch ein solcher Patient isoliert werden muss. Der erhöhte Arbeitsaufwand bleibt.
Sind die Pflegekräfte diesem Arbeitsaufwand schlicht nicht mehr gewachsen?
Seit Beginn der Pandemie wird von Wertschätzung geredet und es wird debattiert, was sich alles ändern müsste. Aber den Personalmangel an sich hat man nicht ausreichend beachtet oder bekämpft. Natürlich sind dann viele frustriert und sagen, wenn sich jetzt nichts ändert, wird sich auch danach nichts ändern. Und sie suchen sich einen Ausweg.
Warum haben Sie noch nicht hingeschmissen?
Weil ich noch nichts für mich Adäquates gefunden habe.
Lange fordert einfach nur mehr Wertschätzung
Das heißt, der Gedanke ans Aufhören ist längst da?
Man tröstet sich damit, dass man sagt: Irgendwann wird eine Möglichkeit kommen und es wird nicht dein ganzes Leben lang so bleiben. Entweder ändern sich die Bedingungen, viel wahrscheinlicher ist derzeit aber, dass man irgendwo eine Anstellung findet, wo man mehr wertgeschätzt wird.
Was müsste denn passieren, damit Sie in zehn Jahren noch in diesem Beruf arbeiten?
Zunächst einmal, dass keiner mehr diese Frage stellt. Wenn wir den Punkt erreicht haben, dass alle begriffen haben, was passieren muss, wären wir einen riesigen Schritt weiter.
Lange: Pflegekräfte müssen lernen, "Nein" zu sagen
Bis dahin: Was sind denn konkret die wichtigen Schritte?
Ein ganz wichtiger Punkt ist, dass die Pflegekräfte selbstbewusster werden und auch mal lernen, Nein zu sagen. Denn erst wenn ein System nicht mehr aktiv von den Mitarbeitern unterstützt wird, wird sich etwas ändern. Die Politik sagt sich derzeit: Mensch, es funktioniert ja noch, brauchen wir nichts zu ändern. Für mich persönlich ist die wertvollste Währung meine Lebenszeit und meine Gesundheit. Und beides opfert täglich jede Pflegekraft, um das System am laufen zu halten. Und erst wenn man sagt: Stopp, Aus, Ende, wird die wirkliche Tragweite des Personalmangels sichtbar. Erst dann wird die Politik reagieren.
Wie kann man denn politisch reagieren?
Zum Beispiel, indem man die Arbeitszeiten reduziert und eine 40-Stunden-Woche in eine 35-Stunden-Woche umwandelt. Oder indem man Pflegekräfte beziehungsweise generell Menschen in sozialen Berufen schon mit 60 in Rente schickt. Aber bis das geschieht, muss insbesondere die Pflege eben selbstbewusster werden.
Aufmerksamkeit der Medien und Politik besser nutzen
Ihren Worten nach könnte man meinen, die Pflegenden sind auch selbst schuld, dass sich nichts ändert.
Ja, das sind sie. Und das unterschreibe ich. Wir können nicht immer mit dem Finger auf andere zeigen. Wir hätten die Zeit in der Pandemie mit der hohen medialen Aufmerksamkeit anders nutzen müssen. Da geht es auch gar nicht darum, unbedingt zu streiken.
Sondern?
Es reicht ja zu erkennen, dass die eigene Lebenszeit und die eigene Gesundheit auch was wert sind – indem man der Politik und dem Arbeitgeber Grenzen setzt und zum Beispiel sagt: Heute habe ich frei, heute springe ich nicht ein.
Impfpflicht für Pflegekräfte: Es braucht keine Kündigungswelle für den Kollaps
Einige Pflegekräfte suchen offenbar aufgrund der einrichtungsbezogenen Impfpflicht – so ist es Stellenanzeigen zu entnehmen – einen neuen Job. Droht ein Pflege-Exodus?
Hier haben wir einen Irrtum: Wir brauchen keine riesige Kündigungswelle. Es reicht, wenn auf jeder Station nur ein oder zwei Leute sagen: Okay, dann gehe ich. Dann haben wir ein großes Problem. Jede einzelne Pflegekraft, die wegen dieser Impfpflicht geht, ist eine zu viel. Hinzu kommt, dass viele Pflegekräfte bald in Rente gehen. Dann werden wir ein Personalloch haben, das Deutschland bisher noch nicht gesehen hat.
Erweist die Politik der Pflege mit der Impfpflicht also einen Bärendienst?
Seit der Pandemie riskieren wir täglich unsere Gesundheit. Wir haben mit Masken gearbeitet, die mehrmals aufbereitet wurden, obwohl sie nur für den Einmalgebrauch gedacht waren. Wir haben unsere Schutzvisiere selbst gebastelt und mussten infiziert zur Arbeit gehen. Und jetzt sagt man uns: Wenn du heute nicht geimpft bist, brauchst du morgen nicht mehr zur Arbeit kommen, denn wir müssen die Patienten schützen. Das ist für mich eine heuchlerische und inakzeptable Doppelmoral. Denn wo war die Sorge vorher? Und wenn es wirklich um die Patienten und Pflegeheimbewohner geht, frage ich mich: Warum kriegt man den Personalmangel nicht in den Griff oder versucht es zumindest mal? Denn Fakt ist: Wenn wir weg sind, sind wir weg. Hinter uns gibt es keine zweite Reihe.
Lange: Ich helfe gerne Menschen in Not
Zumindest, solange sich nicht mehr Menschen für den Pflegeberuf begeistern können. Trotz aller Probleme: Was lieben Sie an Ihrem Job?
Es ist ein erfüllendes Gefühl, Menschen in Not zu helfen oder sogar jemanden wiederzubeleben. Und es gibt so viele Fachrichtungen, in denen man sich ausprobieren kann: Wenn einem zum Beispiel die Intensivstation nicht gefällt, kann man in die Onkologie wechseln, in die Rettungsstelle, in die Psychiatrie. Man hat so viele Möglichkeiten, es gibt viele Fortbildungsmöglichkeiten. Und: Man hat einen sicheren Arbeitsplatz. Insofern kann ich trotz allem jedem empfehlen, diesen Beruf zu ergreifen. Denn: Mit jedem Einzelnen, der zu uns kommt, werden die Bedingungen für alle besser – auch für die Patienten.

Ricardo Langes Buch "Intensiv – Wenn der Ausnahmezustand Alltag ist" ist seit Januar erhältlich. dtv Verlag, 192 Seiten, 16 Euro
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