Hilfe, ich bin sexsüchtig!

Bis zu eine Million Deutsche leiden unter „Hypersexualität“. Ein Münchner erzählt,wie bei ihm die Lust zur Last wurde.
von  Abendzeitung
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Bis zu eine Million Deutsche leiden unter „Hypersexualität“. Ein Münchner erzählt,wie bei ihm die Lust zur Last wurde.

Als sein Computer um 4 Uhr morgens überhitzt, geht Michael Schneider ein Licht auf. Weinend – vor Wut, vor Erschöpfung und vor Erleichterung – fällt er ins Bett. Seit zwei Tagen ist der 38-Jährige praktisch daueronline, klickt sich von Pornoseite zu Pornoseite. Wieder einmal. Eigentlich war er am Samstagabend mit Freunden verabredet – abgesagt, weil er nicht von den Bildern los kam. Eigentlich wollte er sich am Sonntag bloß kurz vor dem PC entspannen und dann schlafen – keine Chance.

Um 22 Uhr geht die anstrengende Reise meistens los, Michael Schneider surft auf eine von Millionen Erotik-Seiten. So weit, so gewöhnlich – Umfragen zufolge tun dies bis zu 80 Prozent der Deutschen mit Internetanschluss. Der Unterschied: Nach dem ersten Mal Masturbieren ist bei ihm noch lange nicht Schluss.

„Eigentlich will ich den Computer dann herunterfahren, aber die Versuchung ist einfach zu groß. Klickt man auf seine Seite, öffnen sich gleich zehn neue, mit anderen Bildern und Videos, ich glaube jeder kennt das. Oft habe ich zehn Fenster gleichzeitig offen, switche hin und her, immer auf der Suche nach Sachen, an die sich mein Auge noch nicht gewöhnt hat, bis zur Erschöpfung und darüber hinaus“, berichtet er. „So verbringe ich oft auch die Abende unter der Woche, obwohl ich am nächsten Tag früh ins Büro muss.“

Plötzlich fällt das Internet aus

Manchmal ist er bis 6 Uhr wach. Klar, dass darunter die Konzentration des Buchhalters leidet. „Ich machte Fehler, immer häufiger. Mein Chef war schon darauf aufmerksam geworden, ich erklärte das halt mit privaten Problemen, stimmt ja irgendwie auch“

Wie groß das Problem wirklich ist, wird Michael Schneider erst in dem Moment bewusst, als nachts sein Internet ausfällt. „Ich hatte regelrechte Entzugserscheinungen, habe die arme Mitarbeiterin vom 24-Stunden-Kundenservice angeschrien, bin am nächsten Tag in der Mittagspause ins Internetcafe gestürmt, weil ich mich im Büro nicht auf die einschlägigen Seiten traue.“ Dann ist er zum Arzt gegangen.

„Sexsucht wird durch die im Internet leicht verfügbaren pornografischen Angebote immer häufiger“, sagt der Psychiater Dr. Kornelius Roth, Deutschlands renommiertester Experte für Sexsucht und Autor des Buches „Sexsucht. Krankheit und Trauma im Verborgenen“. Wissenschaftler schätzen, dass rund ein Prozent der Bevölkerung an „Hypersexualität“ leidet, 80 Prozent sind Männer.

Sex als Mittel gegen innere Leere?

Dass derzeit der Fall Tiger Woods als medialer Aufhänger für Sexsucht dient, sieht Roth skeptisch. „Der Begriff wird hier mehr zur Stigmatisierung eingesetzt. Dabei sind die Informationen dürftig. Außerdem ist Sexsucht eine Diagnose, die jeder nur für sich selber stellen kann, nicht etwas, das jemand anderes mal eben für einen bestimmt. Schon gar nicht aus der Ferne!“

Typisch sei allenfalls, dass hier jemand sehr erfolgreich, sehr viel unterwegs und sehr viel allein sei. „Sexualität kann dazu benutzt werden, diese Leere zu füllen.“

Nur weil jemand häufig Geschlechtsverkehr hat, ist er aber noch lange nicht sexsüchtig, betont Roth. „Es hängt von den Folgen ab. Sind die negativ und man macht trotzdem weiter, ist ein wichtiges Suchtkriterium erfüllt.“

Michael Schneider hat die Notbremse gezogen und sich in eine Therapie begeben. „Als erstes habe ich den Internetanschluss gekündigt. Danach bin ich erst einmal abstinent geblieben.“ Unterstützung gibt es dabei von Selbsthilfegruppen wie den „Anonymen Sexoholikern“ (im Internet auf anonyme-sexsuechtige.de).

Das Ziel sei aber nicht, die Patienten in Mönche zu verwandeln, sagt Experte Kornelius Roth. Im Gegenteil: „In der Sexsuchttherapie geht es auch darum, dass die Sexualität wieder genossen werden kann.“ Zum Beispiel mit Kuscheln statt Klicken.

Timo Lokoschat

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