Go East – wo der Osten cool ist

Es gibt sie zwar nicht überall, die „blühenden Landschaften“: Doch 20 Jahre nach der Einheit nutzen immer mehr junge Leute die Chancen, die die neuen Bundesländer bieten. Systematisch locken Städte im Osten junge Menschen aus dem Westen an - und diese folgen dem Ruf gerne
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Vom Eisbach an die Ostsee: Der Münchner Daniel Weiß (27) hat in Rostock einen Surfladen.
AZ Vom Eisbach an die Ostsee: Der Münchner Daniel Weiß (27) hat in Rostock einen Surfladen.

Es gibt sie zwar nicht überall, die „blühenden Landschaften“: Doch 20 Jahre nach der Einheit nutzen immer mehr junge Leute die Chancen, die die neuen Bundesländer bieten. Systematisch locken Städte im Osten junge Menschen aus dem Westen an - und diese folgen dem Ruf gerne

Heute kommt der VW-Bus. Der Computer muss mit, noch ein Stuhl, ein Rollcontainer. Alles andere ist im Studentenheim, in Cottbus. Mein Sohn geht zum Studieren in den Osten. Die Münchner Bekannten regieren darauf mit Skepsis, Bangen oder Entsetzen. „Was, in den Osten?“ Ob er wohl noch bei Trost ist?

Vorurteile sind zäher als Mauern, nach 20 Jahren Einheit sind sie unverwüstlich, die Horrorstorys über „Dunkeldeutschland“ und die Trübsal von Skinheads, Arbeitslosigkeit und Jammer-Ossis. Es gibt sie nicht flächendeckend, die „blühenden Landschaften“, die Helmut Kohl versprach. Trotzdem steckt der Osten auch voller Chancen. Einige nutzen sie, und diesmal sind es keine Spekulanten.

Rund 1,6 Billionen, dass sind 1600 Milliarden Euro netto, sind seit 1990 von West nach Ost geflossen, schätzungsweise, genaue Zahlen gibt es nicht. Superautobahnen, neueste Telekommunikations-Technik, renovierte Altstädte, neue Bahnhöfe. Vom Westen aus beeindrucken aber noch immer eher die doppelt so hohe Arbeitslosigkeit, Stasi oder Firmenpleiten. Dabei geht es auch andersherum. Eine halbe Million Betriebe wurden gegründet im Osten. Und es sind nicht nur Börsen-notierte Unternehmen wie die Jenoptik.

Daniel Weiß zum Beispiel ist gegen den Abwanderungsstrom von West nach Ost gegangen. Aus München stammt der 27-Jährige, und vor vier Jahren gründete er in Rostock einen Surfladen. Er verkauft Boards und alles rund herum, „was man auch am Eisbach braucht“. Nur da oben, der Wind und die Weitläufigkeit, „das ist doch was ganz anderes“, erzählt er der AZ. Wie geht denn das Geschäft? „Sehr gut,“ erzählt der gelernte Betriebswirt. „Wir sind zu zweit, haben zwei Festangestellte und fünf Saisonkräfte. Wir haben sogar noch zwei Surf-Schulen dazu, und wir können davon gut leben.“

Über seine neue Heimat mag der Jung-Unternehmer nur schwärmen: „Das ist ein superschönes Land hier“, sagt er: „Und wenn ich gerade mit München rede: Wir können noch ein paar Bayern hier oben brauchen.“

Tobias Woltendorf kann dem nur beipflichten, aber über mangelnden Zuspruch mag sich der Vize im Tourismusverband von Mecklenburg-Vorpommern nicht beklagen: „Wir haben mehr Touristen als Mallorca“, sagt er. 28,4 Millionen Übernachtungen zählt „Meck-Pomm“ jährlich. Rügen, die Pinien an den Dünen, der Sand und die Seenplatte – die Region hat den Weg vom Geheimtipp zum Boom gemacht. Auch wenn noch „Luft nach oben“ ist. „Aus Bayern kommen vier Prozent unserer Gäste.“

Aber es gibt ganz neue Ost-Phänomene: „Manche Lehrstellen in der Branche können wir schon nicht mehr besetzen“, sagt Woltendorf. Und das in einem Land, aus dem seit Jahren Tausende abgewandert sind. 2008 waren es knapp 25000. Aber immerhin 15000 Menschen zogen im selben Jahr in den Nordosten.

Der Trend soll umgedreht werden. „Heimweh?“ stand auf den Bierfilzeln in Hamburger Szenekneipen. Es war eine Rückholkampagne. Eine Aktion „MV4U“ appellierte an Heimatgefühle der Abgewanderten aus Mecklenburg und Pommern.

Vor allem die Jungen sollen kommen. „Studieren in Fernost“ heißt die leicht selbstironische Kampagne, mit der Weststudenten an die 44 Ost-Unis von Greifswald bis Cottbus gelockt werden sollen. Dabei helfen nicht nur PR-Filmchen, sondern handfeste Geschenke: „Begrüßungsgeld“, ganz unironisch, zahlt beispielsweise die Uni in Eberswalde seit 2004 an anreisewillige Studenten. Vor 20 Jahren gab es 100 Mark für die Ossis im Westen, jetzt gibt es einmal 80 Euro und in der Folge 50 Euro pro Semester – für die jungen Wessis.

Die Zuckerl sind umso süßer, weil es im Osten, anders als in den alten Ländern, keine Studiengebühren gibt. Auf Lockangebote wollen sich die Ost-Unis allerdings nicht reduzieren lassen: „Keiner kommt nur wegen der Aussicht auf einen Segeltörn“, sagt der Rektor der Uni Greifswald, Rainer Westermann: „Wir bieten exzellente Lehre.“ Die Uni mit 13000 Studenten hat vor allem in Medizin und Jura einen hervorragenden Ruf. Eine schöne Altstadt und ein Max-Planck-Institut für Plasmaphysik machen das Hanse-Städtchen an der Ostsee zum Leuchtturm. „Eine richtige Uni-Stadt, wie Tübingen oder Heidelberg“ schwärmt ein Student. Auch Peer Steinbrücks Sohn studiert hier.

In einer Umfrage, für die 150 000 Studenten die Ausstattung ihrer Universitäten bewerteten, liegen die Ost-Unis vorne. Thüringen an der Spitze, gefolgt von Meck-Pomm und Sachsen-Anhalt. Und Cottbus hat zum Beispiel ein Top-Ranking für angehende Architekten. Ein Argument, das auch uns Eltern gefällt: „Und die Leute sind so freundlich“, wundert sich mein Sohn. Am ersten Abend gab’s die erste Party, am dritten Tag war die Wohnung klar gemacht. Und wenn der Kleinstadt-Ostkoller kommt? 120 Kilometer sind’s nach Dresden, genau so weit nach Berlin, mit dem Semesterticket ist die Fahrt gratis. Da ist der Osten weit weg.

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