Geiseldrama im Jemen: Mädchen frei

RIAD - Nach elf Monaten sind Lydia (6) und Anna (4) frei, doch der kleine Simon (2) lebt wohl nicht mehr. Auch von den Eltern fehlt jede Spur. Der Onkel der beiden Mädchen aus Sachsen, hat mit der AZ gesprochen.
Seine Stimme stockt. Ihr ist einerseits die Erleichterung, andererseits die Trauer anzuhören. Denn Reinhard Pötschke hat erfahren, dass seine beiden Nichten Lydia (6) und Anna (4) aus der Geiselhaft im Jemen befreit worden sind. Doch deren kleiner Bruder Simon (2) ist wahrscheinlich tot. Der Pastor aus Radebeul in Sachsen bangt auch noch um seinen Schwager Johannes Hentschel und dessen Ehefrau Sabine, die offenbar noch in den Händen der Geiselnehmer sind.Vor elf Monaten war die Familie entführt worden.
Pötschke, der über das Auswärtige Amt über enge Kontakte in den Jemen verfügt, sagte der AZ: „Ja, ich kann erleichtert bestätigen, dass die beiden Mädchen frei sind. Offensichtlich geht es ihnen den Umständen entsprechend gut. Der kleine Simon ist aber wohl tot. Wir dürfen nicht die Augen davor verschließen. Wenn nur zwei Kinder befreit worden sind, wo ist das Dritte? Freude und Trauer liegen in diesen Stunden nah beieinander.“ Über das Schicksal der Eltern weiß er nichts.
Lydia und Anne sollen möglichst bald nach Deutschland gebracht werden, vielleicht schon heute. Der 43-Jährige: „Sie werden zunächst bei Verwandten untergebracht.“ Mitglieder des Krisenstabes und eine Angehörige der Familien flogen gestern nach Saudi-Arabien. „Die Kinder brauchen jetzt Ruhe und nicht das Blitzgewitter, um das Geschehen zu verarbeiten“, rief der Pastor die Medien zur Zurückhaltung auf, „es wird so schon schwer genug für sie“. Schon seit Montagnachmittag weiß Pötschkle von den Ereignissen im Jemen.
Befreit wurden die Mädchen von einem saudischen Sondereinsatzkommando: Über dem Bezirk Shada in der abgelegenen Provinz Saada, an der Grenze zu Saudi-Arabien, kreist ein Apache-Hubschrauber der Sicherheitskräfte. Soldaten durchsuchen mehrere Häuser eines Dorfes. Es sind Schüsse zu hören. Möglicherweise stammen sie von Angehörigen der schiitischen Houth-Rebellen, die auf die Militärs schossen.
Dann findet das Einsatzkommando die blonden Mädchen in dem Dorf. Sie werden sofort in ein saudisches Militär-Krankenhaus geflogen, sind aber in gutem Zustand. Angeblich verhandeln die Saudis seit Monaten mit den Entführern, sollen fünf Millionen Dollar Lösegeld gezahlt haben. Dafür wurden die Kinder in das Grenzdorf gebracht.
Ein Sprecher des Innenministeriums in Riad bestätigt die Rettung. Weil es zwischen den Regierungen im saudischen Riad und im jemenitischen Saana Spannungen gibt und weil auf die noch vermissten Geiseln Rücksicht genommen werden soll, wurden Details der Operation gestern noch zurückgehalten.
Die Behörden wollen jetzt die Informationen, die sie bei der Rettung der Kinder gewinnen konnten, dazu nutzen, das Schicksal der restlichen Geiseln aufzuklären. Vermisst werden außer dem kleinen Simon, der mutmaßlich tot ist, auch noch die Eltern Hentschel und einen Brite, der mit der Familie im Juni 2009 entführt worden war.
Rückblende: Am 12. Juni 2009 setzen Johannes Hentschel, seine Familie und vier begleitende Entwicklungshelfer per Handy einen Hilferuf ab, als sie von drei bärtigen Männern und einem quer gestellten Geländewagen gestoppt werden. Es ist ihr letztes Lebenszeichen. Wie Hentschel und seine Frau arbeiteten die meisten aus dieser Gruppe im staatlichen Jumhori-Krankenhaus in Saada. Sie befinden sich an ihrem arbeitsfreien Tag auf einem Ausflug in den Norden der Stadt, in einsames Wüstengebiet. Dort planen sie ein Picknick.
Zwei Tage später die erste Hiobsbotschaft: Es werden die Leichen von drei Menschen aus der Gruppe gefunden, zwei deutsche Pflegehelferinnen und eine südkoreanische Lehrerin. Sie wurden offenbar kurz nach der Entführung erschossen, als sie zu fliehen versuchten. Konkrete Hinweise auf die Täter gibt es bisher nicht. Verdächtigt werden wahabitische Extremisten und Clans der schiitischen Houth-Rebellen.
Weil in dem arabischen Land immer wieder Entführungen vorkommen, wurde der Picknick-Gesellschaft schon unmittelbar nach ihrem Verschwinden Leichtsinn vorgeworfen. So ließ damals das jemenitische Verteidigungsministerium verlauten, dass die Gruppe vor ihrer Fahrt in das einsame Gelände unbedingt das Krankenhaus über ihren Ausflug hätte informieren müssen.
Nach wie vor für möglich gehalten wird auch, dass die Entführung religiös motiviert war. Der Krisenstab des Auswärtigen Amtes gehe davon aus, so der „Spiegel“, dass das christliche Ehepaar und die beiden deutschen Pflegehelferinnen aus Sachsen missioniert hätten.
Johannes und Sabine Hentschel waren für die kleine christliche Hilfsorganisation „Worldwide Services“ in den Jemen geschickt worden. So habe der Mann Freunden berichtet, einen Muslimen ermuntert zu haben, die Bibel zu lesen. Auch bei den beiden getöteten Frauen seien Missionsschriften gefunden worden. Doch Schwager Reinhard Pötschke glaubt nicht an eine gezielte Missionstätigkeit: „Sabine und Johannes haben christliche Nächstenliebe wirklich gelebt. Aber sie haben den Glauben nicht nach außen getragen.“ Das hätten ihm auch Mitarbeiter der Klinik bestätigt. „Sie hatten ja auch genügend Erfahrung und wussten, wie sie sich in dem muslimischen Land zu verhalten hatten.“
Trotz der Befreiung von Lydia und Anna ist das Drama in dem Wüstenstaat nicht beendet. Noch gibt es keine Bestätigung über das Schicksal des kleinen Simon, noch weiß niemand, wo die Eltern sind. Auch die Bundesregierung hat keine Gewissheit. Außenminister Guido Westerwelle: „Ihre Lage erfüllt uns mit großer Sorge.“
Michael Heinrich