Gau von Fukushima: So schlimm wie Tschernobyl

Japan stuft den GAU von Fukushima auf Stufe 7 hoch – die Befürchtungen sind wahr geworden. Aber was heißt das?
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Bernhard Fricke
Martha Schlüter Bernhard Fricke

Tokio - Die Stufe 6 haben sie sich dann gleich gespart. Der GAU von Fukushima, bisher klassifiziert als Unfall der Kategorie 5 („ernster Unfall, begrenzte Freisetzung von Radioaktivität”) hat gar nicht mehr die Etappe über Kategorie 6 („schwerer Unfall, erhebliche Freisetzung”) genommen. Nun ist er offiziell ein Unfall der schlimmsten Stufe, also 7. Das heißt: „Katastrophaler Unfall, schwerste Freisetzung, Auswirkungen auf Gesundheit und Umwelt in einem weiten Umfeld, gesundheitliche Spätschäden über große Gebiete, gegebenenfalls in mehr als einem Land”, so die nüchterne Definition von Ines (International Nuclear Event Scale). Bisher gab es erst einen solchen Unfall: Tschernobyl, vor fast genau 25 Jahren. Jetzt sind die Befürchtungen wahr geworden: Fukushima ist so schlimm wie Tschernobyl. Die höchste Stufe 7. Eine einmalige Katastrophe, hatte es damals geheißen. Und jetzt zum zweiten Mal? Die AZ erklärt mögliche Parallelen und Folgen.

 Warum kommt jetzt die Hochstufung? Den Schritt vollzog die japanische Atomsicherheitsbehörde Nisa. Ausschlaggebend waren keine neuen Technik-Probleme, sondern neue Messdaten. „Wir haben die Einstufung angehoben, weil die Auswirkungen der Strahlung umfassend sind, in der Luft, im Gemüse, in Leitungs- und Meerwasser”, so Minoru Oogado von Nisa. Experten von Greenpeace bis zur nicht gerade kernkraft-skeptischen französischen Atombehörde hatten eine Hochstufung schon länger erwartet. Thorben Becker, Atomexperte beim Naturschutzbund: „Es ist vermutet worden, dass die Strahlungswerte höher liegen als öffentlich bekannt.” Jetzt kamen auch die japanischen Behörden nicht mehr darum herum. Ein Nisa-Sprecher sagte, aktuell seien es zehn Prozent der in Tschernobyl freigesetzten Menge – aber die Zahl steigt. Ein Tepco-Sprecher räumte ein, dass es letztlich sogar mehr als in Tschernobyl sein könnte.

Wie reagiert das Ausland?
Es wurde begrüßt, dass Japan die Einstufung nun endlich nach oben korrigiert, auch wenn nicht alle gleich die Stufe 7 gewählt hätten, etwa weil die Menge der Strahlung noch kleiner sei. „Es gibt halt nichts höheres als Stufe 7”, sagt ein deutscher Fachmann. Andererseits sagt die Ärzte-Organisation IPPNW, Tepco rechne offenbar damit, dass noch viel mehr Radioaktivität freigesetzt werde, „nicht sehr unrealistisch angesichts des Zustandes der Reaktorblöcke”.
Wie reagiert Japan? Die Anwohner sind entsetzt: „Das ist sehr schockierend”, sagt Wirtin Miyuki Ichisawa aus Iitate. Die japanische Börse brach ein. Ministerpräsident Naoto Kan rief die Bevölkerung in einer TV-Ansprache auf, jetzt nicht in Panik zu verfallen. Die Lage in der Atomruine bessere sich „Schritt für Schritt”.

Wie ähnlich ist der Verlauf der Katastrophe von Tschernobyl?
Der wichtigste Unterschied ist, dass es in Tschernobyl eine gewaltige Explosion gab. Das hat die radioaktiven Partikel in so große Höhen geschleudert, dass sie bis Westeuropa gelangten. In Fukushima gab es nur kleinere Explosionen. Das heißt: Die Radioaktivität verteilt sich nicht so weit wie damals. Aber: Sie tritt jetzt, einen Monat später, immer noch aus – eine schwächere, aber schleichend anhaltende Verstrahlung. Erschwerend kommt hinzu: Der Reaktor von Fukushima steht auf einem viel dichter besiedelten Gebiet als der Meiler Tschernobyl im ukrainisch-weißrussischem Grenzgebiet. Was letztlich für mehr Opfer sorgt, lässt sich vorerst kaum sagen. Auch die anderen Punkte lassen sich so oder so deuten: Einerseits hatte der Reaktor von Tschernobyl keine innere Schutzhülle – aber dort war nur ein Reaktor betroffen und nicht gleich vier.

Was können die Folgen sein? Die gesundheitlichen Konsequenzen sind nicht einfach zu berechnen, weil schwer nachweisbar ist, was etwa eine Krebskrankheit ausgelöst hat: Die Angaben über die Zahl der Toten in Folge von Tschernobyl reicht von 4000 bis 1,4 Millionen. Unstrittig ist der Zusammenhang etwa bei Schilddrüsenkrebs und Leukämie bei Kindern. Studien gehen von 240000 Krebsfällen in Folge von Tschernobyl aus sowie von bis zu 200000 Kindern mit Gendefekten. Dazu kommt eine höhere Zahl von Tot- und Fehlgeburten: Nach 1986 kamen in Europa 800000 Kinder weniger zur Welt als statistisch zu erwarten gewesen wäre – und zwar vor allem Mädchen. Tschernobyl ist heute, eine Generation später, noch zu spüren – viele Lebensmittel in Weißrussland sind immer noch belastet. Und der Sarkophag ist immer maroder. Der ehemalige Direktor des Werks, Michail Umanez, warnt vor der nächsten Katastrophe – gerät der Atommüll mit Wasser in Kontakt, könnte es sogar erneut zu einer Kernschmelze kommen. Nächste Woche will die Ukraine wieder bei Geberländern betteln gehen, Geld für eine neue Schutzhülle. 

 


Bernhard Fricke, der Anwalt und Ex-Stadtrat hat 1986 die Umweltorganisation "David gegen Goliath" ins Leben gerufen. Er erinnert sich, wie er den Super-GAU von Tschernobyl erlebt hat.

AZ: Herr Fricke, wissen Sie noch, was Sie am 26. April 1986 gemacht haben?

BERNHARD FRICKE: Ich joggte bei herrlichem Sonnenschein durch meinen Heimatort Bad Endorf. Schließlich hatte niemand einen davor gewarnt, sich draußen zu bewegen. Wie auch jetzt wieder in Japan war die Situation damals total unübersichtlich. Die Informationspolitik der Regierung war völlig diffus. Das hat mich sehr wütend gemacht. Ich fühlte mich wie ein wehrloses Opfer.

Was hat Ihnen am meisten Angst bereitet?

Das Heimtückische ist, dass wir Menschen Radioaktivität weder schmecken, sehen noch riechen können.

Wie haben Sie Ihr Umfeld erlebt?

Es herrschte grenzenlose Panik und Aussichtslosigkeit. Ein Freund fragte mich: Kannst dumeine Kanzlei übernehmen? Ich will mit meinem Sohn nur noch weg.

 

Sie haben Tschernobyl zwei Jahre nach dem Gau besucht. Wie war das für Sie?

Den Anblick der Geisterstadt Prypjat werde ich niemals vergessen. Die Häuser waren noch komplett eingerichtet. Die Menschen haben von einer Sekunde auf die andere fliehen und alles zurücklassen müssen.

Sie haben auch mit Betroffenen gesprochen.

 

Es gibt eine Begegnung, die mich noch heute aufwühlt. Ich habe in Kiew ein junges Paar kennengelernt, das überlegte, sich zu trennen. Nicht, weil sie sich nicht mehr liebten, sondern weil beide verstrahlt worden waren und Angst hatten, zusammen keine gesunden Kinder bekommen zu können.

 

Was haben Sie beim Anblick der ersten Unglücksbilder aus Fukushima gefühlt?

Unendliches Mitleid mit den Betroffenen. Die Japaner haben ja keine Ahnung, was noch auf sie zukommt. Dabei ist diese Katastrophe mit keiner anderen vergleichbar. Man kann sich schließlich nicht einfach reinwaschen. Es gibt keine medizinische Hilfe.

Sie sind für Ihre Umwelt-Aktionen oft belächelt worden.

Die Menschen vergessen zu schnell. Obwohl sich Tschernobyl jederzeit wiederholen kann, hat sich nichts verändert. Dass die Politiker sich nun gegen Atomkraft und für erneuerbare Energien stark machen, ist zwar absurd, aber im Ergebnis gut.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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