Frech und vulgär - die neue Lust der Frauen

Die „Feminisierung der Erotik-Branche“ – warum sexuelle Erkundungen boomen. Haben Deutschlands Frauen die Lust am Schamlos-Sein entdeckt oder ist es ein längst überfälliger Prozess der Befreiung?
von  Abendzeitung

Die „Feminisierung der Erotik-Branche“ – warum sexuelle Erkundungen boomen. Haben Deutschlands Frauen die Lust am Schamlos-Sein entdeckt oder ist es ein längst überfälliger Prozess der Befreiung?

Scham? Gehört definitiv zu den Unwörtern bei Lady Bitch Ray: „Bitte hol den Dildo raus, schieb ihn mir tief in den Bauch. Oh geil, das ist Vagina-Style“, tönt sie in ihrem Song „Suck It“.

Und Autorin Charlotte Roche schreibt: „Mir macht es einen Riesenspaß, mich immer und überall bräsig voll auf die dreckige Klobrille zu setzen.“

Spaß am Vulgären?

Texte zum Blasswerden? Worte, die im Hals stecken bleiben? Vielleicht. Und trotzdem: Zwei Millionen Mal haben User die Songs der deutsch-türkischen Rapperin Reyhan Sahin alias Lady Bitch Ray im Internet gehört. 500000 Mal hat Charlotte Roche ihren Roman „Feuchtgebiete“ verkauft und damit wohl den Bestseller des Jahres geschrieben. Lady Bitch Ray fordert die „vaginale Selbstbestimmung der Frau“. Roche propagiert mit ihrer Geschichte einer 18-Jährigen auf sexueller Erkundungstour „mehr Sex, mehr Schweinereien, keine Tabus“. Und trifft den Nerv der Zeit. Deutschlands Frauen haben die Lust am Schamlos-Sein entdeckt. Den Spaß am Vulgären.

„Junge Frauen sind selbstbewusster geworden, sie wissen, was sie anmacht“, sagt „Alphamädchen“-Autorin Barbara Streidel. „Wenn das mal etwas derber ausfällt, warum nicht?“

„Es gibt eine neue Ehrlichkeit beim Sex“, sagt auch Zukunftsforscher Matthias Horx. Frauen verstecken sich nicht mehr mit ihrer Lust nach der Lust. Guter Sex, dokumentiert seine Studie „Sexsstyles 2010“, werde immer wichtiger. Sie seien „Cool Cats“, „Pleasure Parents“ oder „Lover Ladys“, die das eine wollen: wilden, ausgefallenen Sex. Und gern darüber reden, Filme schauen, schreiben und lesen.

Seit Wochen etwa wird Verlegerin Claudia Gehrke mit Frauen-Manuskripten überschwemmt, die aus schlüpfrigen Emails oder Aufzeichnungen aus Chatrooms bestehen. „Das anonyme Chatten daheim lässt die Schamgrenzen fallen. Plötzlich schreiben Frauen auf, was sie wirklich denken und fühlen“, sagt Gehrke, die seit den 80er Jahren eine erotische Literatursammlung für Frauen („Das heimliche Auge“) herausgibt, „sie formulieren vulgärer, expliziter. Der direkte Zugriff bringt mehr Lust als kuschelige Umschreibungen“. Der Trend wird auch in der deutschen Erotik-Industrie sichtbar. Längst ist die Kundschaft in Sex-Shops vorwiegend weiblich.

„Über die Hälfte der Käufer sind Frauen“, sagt Assia Tschernookoff, Sprecherin des Branchen-Riesen Beate Uhse. „Wenn Männer kommen, dann meistens als Pärchen.“

Die Erotikbranche boomt

Die Verkaufszahlen spiegeln das: 2007 hat der Konzern in Deutschland 300000 Vibratoren und Dildos verkauft – drei Mal so viele wie 2002. Während klassische Männer-Pornos zu Ladenhütern werden, sind Frauenpornos wie die Petra-Joy-Filme „Sexual Sushi“ oder die Tinto-Brass-Serie Kassenschlager. So erklärt sich auch der „Local Report“ des Kondomherstellers Durex: Jede zweite deutsche Frau besitzt einen Dildo oder Vibrator, jede vierte Gleitmittel und erotische Literatur, jede fünfte schaut Pornofilme. Trendforscher Horx spricht von der „Verweiblichung des Sexgeschäfts“.

Sukzessive baut der Sex-Gigant aus Flensburg deshalb die Männer-Sexshops samt muffiger Videokabinen in Citylagen ab. Dort sollen Frauen shoppen. Wie im Vorzeigeobjekt, dem Münchner „Flagship Store“ in der Sendlinger Straße, in dem Vibratoren und Dildos, Dessous und Beischlafhilfsmittel in edlem Design dekoriert sind.

Paulchen heißt er...

„Paulchen“ oder „Little Dolly“ heißen die begehrten Wonnemacher hier, pastellfarben mit frechen Maulwurfs- oder Hamstergesichtern. Oder „Delight“, ein ergonomischer Surrer in Schlängelform, der aktuelle Verkaufs-Hit. In dieser Woche kommt, ganz neu, die Vibratorserie „Mae B.“ in die Läden: Sexspielzeug erstmals mit TÜV-Gütesiegel – was will Frau mehr. Der „Sexiest Shop on Earth“ – er brummt.

„Sexspielzeug ist nicht ordinär, sondern etwas, womit Frau Spaß haben kann“, sagt Autorin Streidl. Und versteht Charlotte Roche ganz ausgezeichnet: „Vom Sex, der riecht, schmeckt und schmutzige Geräusche macht“, sagt die, „kann es nie genug geben“.

Irene Kleber

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