Fasten: Sieben Wochen ohne

Jeder Zweite in Bayern ist Fasten-Fan. Doch geht es vielen längst nicht mehr nur ums Essen – sie verzichten lieber freiwillig auf Fernsehen, Internet, Sex oder das Auto
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Kalorienarm: Charlie Chaplin verzichtet im Film „Goldrausch“ (1925) auf Fleisch und versucht sich an einem Menü aus Sohle und Schnürsenkel – allerdings notgedrungen.
dpa Kalorienarm: Charlie Chaplin verzichtet im Film „Goldrausch“ (1925) auf Fleisch und versucht sich an einem Menü aus Sohle und Schnürsenkel – allerdings notgedrungen.

Jeder Zweite in Bayern ist Fasten-Fan. Doch geht es vielen längst nicht mehr nur ums Essen – sie verzichten lieber freiwillig auf Fernsehen, Internet, Sex oder das Auto

Fastest du? Nein, ich bin nicht religiös! Was früher ein Standard-Dialog am Aschermittwoch war, dürfte heute immer seltener zu hören sein. Denn längst hat sich das Fasten vom Geruch der Selbstkasteiung emanzipiert, ist zu einer gesellschaftlichen Massenbewegung geworden, die weit mehr bedeutet als sich sieben Wochen lang nur von Brottrunk zu ernähren.

Laut einer aktuellen Umfrage der Krankenkasse DAK ist die Begeisterung in Bayern besonders groß. Jede Zweite ist hier Fasten-Fan, weit mehr Menschen als zum Beispiel in Ostdeutschland.

Gerade in Großstädten wie München wird der Verzicht immer umfassender interpretiert – wer will, versucht ab heute zum Beispiel eine Zeitlang ohne Internet, Fernsehen, sein Handy oder sein Auto auszukommen. „Weniger werden, um mehr zu kapieren“, so nennt das der Münchner Stadtpfarrer Rainer Maria Schießler von der St. Maximilians-Kirche. „Es geht darum, dass ich wieder auf den Teppich komme. Bei vielen Menschen steht ja nur noch im Vordergrund, für sich selber immer mehr Güter anzuhäufen: das schnellste Auto, den flachsten Fernseher, das neueste Handy-Spielzeug, das dickste Bankkonto. Aber wenn sich alles um Konsum dreht, verlieren sie den Kontakt zu sich selbst, das macht unfrei.“

Notizbüchlein statt Twitter

Vor allem moderne Medien wie das Internet, aber auch dort angesiedelte Plattformen wie Facebook stehen dieses Jahr ganz oben auf der Entsagungs-Agenda. Die Wiener Medienwissenschaftlerin Jana Herwig möchte zum Beispiel nicht nur auf Fleisch und Zucker, sondern auch auf den Online-Dienst Twitter verzichten. „Ich möchte dem Impuls, sich artikulierende Gedanken auf diese Weise zu verfestigen, mal nicht nachgehen, nicht wissen, wie andere darauf reagieren, sondern es nur für mich behalten“, formuliert sie auf ihrer Internetseite.

Um die Sache zu erleichtern, hat sich Herwig ein kleines Büchlein gekauft, das sie benutzen will, „wann immer sich ein als twitternswert erachteter Gedanke in mir formt“. Der Vorteil: „Auch später kann ich noch eingreifen, durchstreichen, korrigieren.“

Nicht immer dürfte es so problemlos sein, sich von liebgewonnenen Gewohnheiten zu lösen: Wie soll man plötzlich einen Morgen ohne Kaffee überstehen? Eine Mittagspause ohne Schokoladenpudding? Stress ohne Zigarette? Einen Männerabend ohne Chips und eine Party ohne Bier? „Auf jeden Fall gut vorbereiten“, rät der Suchtexperte Armin Koeppe. „Einen inneren Cut machen und den Reizen ausweichen, wo es geht.“

Seinen Kaffee nicht dort trinken, wo man normalerweise dazu raucht

Die einfachste Hilfe sei erstmal: alles wegräumen, was lockt. Zigaretten weggeben, damit man den unbequemen Weg zum Automaten vor sich hat, die Schokolade gut einwickeln (zum Beispiel mit Gummibändern) und ganz nach hinten in den Schrank verbannen. Sehr viel leichter falle der Verzicht auch, wenn man Alltagsrituale bewusst ändert – also morgens seinen Kaffee gezielt nicht da trinkt, wo man sonst automatisch die Frühstückszigarette anzündet.

„Das ist ein unbeschreibliches Glücksgefühl, festzustellen, dass man auch ohne seine Zwänge auskommt und in der Zeit ganz neue Erfahrungen machen kann“, sagt Pfarrer Rainer Maria Schießler.

Natürlich gibt es nach wie vor auch den klassischen Faster, der einfach aufs Essen verzichtet. Experten raten inzwischen jedoch von einer Nulldiät ab. Professor Andreas Michaelsen, Chefarzt im Berliner Immanuel-Krankenhaus empfiehlt etwa das „modifizierte Fasten“. Dabei nimmt man maximal 500 Kalorien pro Tag zu sich – als Saft, Gemüsesuppe, Molke oder Buttermilch. Dazu muss reichlich getrunken werden: mindestens drei Liter am Tag kalorienfrei als Tee oder Wasser. Diese Fastenkur sollte idealerweise mindestens sieben und nicht länger als 14 Tage dauern, rät Michaelsen.

Für gleich sechs Wochen wollen einige Facebook-User ihren Account ruhen lassen. Genug Zeit, endlich die vielen „Freunde“, die man dort in langen Listen angesammelt hat, mal wieder (oder erstmals) in der Realität zu treffen. Am besten in einem Café ohne WLAN. Wegen der Rückfallgefahr.

I. Kleber, T. Lokoschat

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