Experte erklärt: So ziehen Sie Ihre Neujahrsvorsätze durch

AZ-Interview mit Christian Thiele: Der 49-Jährige aus Garmisch-Partenkirchen ist Coach und Trainer rund um positive Führung und positive Psychologie sowie Glücksforschung.
Wer Jahresziele nicht erreicht, war womöglich zu streng in der Zielvorgabe
AZ: Herr Thiele, es sind gerade herausfordernde Zeiten. Sollten wir uns trotzdem Ziele fürs neue Jahr setzen - oder einfach mal Gnade mit uns selbst walten lassen?
CHRISTIAN THIELE: Beides! Wir können durchaus einmal feiern, was wir geschafft haben in diesen Zeiten, in denen vieles nicht normal ist und schon der Alltag ein gewisses Maß an Resilienz fordert. Gleichzeitig ist der Mensch ein Wesen, das es in die Zukunft zieht. Sich in die Zukunft zu denken, Pläne zu schmieden, die Ressourcen einzuteilen und die Kräfte zu priorisieren - das tun wir entlang von Zielen. Diese zu verfolgen, ist damit eine sehr menschliche Eigenschaft. Attraktive und sich lohnende Ziele können zudem Optimismus und Zuversicht fördern. Wichtig ist zugleich, immer wieder zurückzuschauen und sich zu fragen: Welche Ziele habe ich erreicht beziehungsweise bin ich ihnen näher gekommen?
Was ist, wenn nicht?
Wenn ich die zuvor gesetzten Ziele gar nicht erreicht habe, war ich womöglich etwas streng in der Zielvorgabe. Wenn ich andererseits alle Ziele vollkommen erreicht habe, vielleicht etwas zu lasch. Man darf sich gern Ziele setzen, die etwas Visionäres haben und möglicherweise nie vollständig erreicht werden können. Nehmen wir als Beispiel Gelassenheit zu 100 Prozent. Umso schöner ist es, wenn man hier Fortschritte erzielt.
Es gibt Vermeidungsziele und Annäherungsziele
Wie setzt man sich gute Vorsätze fürs neue Jahr?
Es gibt unterschiedliche Arten von Zielen - die Vermeidungsziele und die Annäherungsziele. Letzteres heißt: Was genau ist der Zustand, den ich erreichen möchte? Und nicht so sehr darauf schauen, wovon ich weg will. Wenn wir uns mehr damit beschäftigen, wo wir hinwollen, aktiviert das unsere Belohnungszentren im Gehirn. Es gibt hier eine schöne Methode namens W-O-O-P. Sie wurde forschungsbasiert von der Hamburger Psychologin und Motivationsforscherin Gabriele Oettingen entwickelt.
Was besagt diese?
Das W steht für Wish - was ist der Wunsch meines Vorhabens? Das erste O steht für Outcome: Habe ich eine Vision, ein inneres Bild meines Ziels? Wie wird es sich anfühlen? Das zweite O - ganz wichtig - steht für Obstacle (Hindernis). Womit könnte ich mir beim Erreichen meines Ziels ein Bein stellen? Was sind innere Stolpersteine? Das P steht für Plan - man kann sich hier vorab zwei, drei Strategien zurechtlegen, um die möglichen Hürden zu überwinden und auf dem Weg zu meinem Ziel auf Kurs zu bleiben.
Ziele für die nächsten 24 und 48 Stunden motivieren besonders
Kann es auch hilfreich sein, sich ein Ziel in Teilziele zu unterteilen, um nicht gleich vor dem Berg der großen Aufgabe aufzugeben?
Unbedingt! Den Berg sozusagen in kleine Abschnitte aufteilen. Man kann zum Beispiel zum Monatsende oder auch zum Vierteljahr Zwischenziele ansetzen, um zu überprüfen, ob man noch in die richtige Richtung geht. Was auch besonders motiviert, ist, was man in den nächsten 24 und 48 Stunden für das Ziel tun kann. Denn wir sind besonders motiviert, wenn man schnell erste Erfolge sieht. Neben diesem Anfangserfolg helfen dann auch Etappensiege.
Wenn man plant abzunehmen, sieht man den Erfolg auf der Waage. Wenn man gelassener werden will, ist das nicht so einfach zu messen. Wie macht man sich den Erfolg sichtbar?
Man kann sich an Situationen zurückerinnern, in denen man es besser geschafft hat und etwa nicht wie sonst ausgeflippt ist. Zum Beispiel bei einem Streit, bei dem man sich eine Auszeit genommen oder Sport gemacht hat und die Angelegenheit nachher ruhiger besprechen konnte.

Drei mal drei Ziele sind optimal
Wie viele Ziele sollte man sich setzen - oder reicht eines für den Anfang?
Ich finde die Logik drei mal drei gut. Ich suche mir für den Zeitraum X drei Ziele, zu jedem davon suche ich mir drei Hebel oder Richtungsanzeiger, wie ich dem Ziel näherkomme.
Gruppenziele mit den Kollegen oder der Familie - sinnvoll?
Wir sind totale Sozialwesen. Es geht natürlich nicht bei allen Vorsätzen, aber es kann sinnvoll sein, sich gegenseitig zu unterstützen und Ziele gemeinsam zu verfolgen.
30 bis 40 Prozent der Neujahrsvorsätze führen zu Veränderungen
Wie geht man damit um, sagen wir Ende Januar 2023, wenn man merkt: Ich habe das Ziel aus den Augen verloren.
Vorsätze sind besser als ihr Ruf. Es gibt Studien, wonach 30 bis 40 Prozent der Neujahrsvorsätze zu langfristigen Veränderungen führen. Daher würde ich die Frage umkehren und fragen: Welche meiner Ziele habe ich denn erreicht? Und was kann ich von diesen fortsetzen und was kann ich von diesen lernen für die noch nicht erreichten - bei der Formulierung, der Umsetzung und so weiter.
Bringt es etwas, die guten Vorsätze aufzuschreiben und in Sichtweite aufzuhängen?
Man muss schauen, was für einen persönlich passt. Aber sie irgendwo zu verankern, sei es als Post-it am Badezimmerspiegel oder als Hintergrund im Smartphone - das kann hilfreich sein.
Ziele wie ein größeres Auto als der Nachbar zu haben, sind schwer zu erreichen
Haben Sie noch eine Motivation für gute Vorsätze - was macht das mit uns? Macht es uns glücklicher?
Wir haben drei Grundbedürfnisse - Autonomie, Verbundenheit, Kompetenz oder auch Wirksamkeit. Wenn man einem Ziel näherkommt und man spürt, ich bekomme etwas gebacken, erfüllt das mindestens das Gefühl von Kompetenz. Also ja, es macht uns ein Stück weit glücklich.
Welche Ziele sind schwierig zu erreichen?
Solche, die sehr stark auf Dinge abzielen wie mehr Likes in Sozialen Medien oder ein größeres Auto als der Nachbar zu haben. Hier lohnt sich ein Blick, was wirklich hinter solchen Zielen steckt.
Hinter dem Wunsch nach mehr Geld könnte Bedürfnis nach Sicherheit stecken
Was könnte es sein?
Das muss jeder für sich erklären, aber hinter mehr Geld könnte der Wunsch nach mehr Sicherheit stehen. Hinter mehr Likes könnte sich verbergen: Man ist zurzeit nicht so in Kontakt mit Menschen, wie man es gerne wäre. Vielleicht wäre also eher das ein Ziel oder ein Bedürfnis, das man verfolgen sollte.
Haben Sie sich schon Ziele gesetzt?
Ich werde nächstes Jahr 50 und habe mich zu einem Berglauf angemeldet. Er ist schaffbar und nicht unerreichbar, aber ich muss schon trainieren. Es motiviert mich schon jetzt für meine Laufeinheiten, dass ich diesen Termin im Juni eingetragen habe.