Eschede: Für immer traumatisiert

Das Unglück von Eschede belastete auch die Retter schwer: Erstmals gab es für sie dauerhafte psychologische Betreuung, die Bahn setzte einen Ombudsmann ein. Auch zehn Jahre später haben viele die Erlebnisse nicht verwunden.
von  Abendzeitung
Einsatz Eschede: Unvorstellbares Chaos und Grauen.
Einsatz Eschede: Unvorstellbares Chaos und Grauen. © ap

Das Unglück von Eschede belastete auch die Retter schwer: Erstmals gab es für sie dauerhafte psychologische Betreuung, die Bahn setzte einen Ombudsmann ein. Auch zehn Jahre später haben viele die Erlebnisse nicht verwunden.

Am dritten Juni 1998 sahen sich die Rettungskräfte in Eschede einem grauenvollen Szenario ausgesetzt: Viele Leichen waren grauenvoll verstümmelt. Die, die eigentlich als Lebensretter gekommen waren, mussten Tote und abgetrennte Gliedmaßen aus dem Wrack ziehen oder Sand sieben, um Gewebe und Knochen zu finden. «Wer behauptet, hier noch Profi zu sein, der muss Eiswürfel pinkeln können, so kalt muss der sein», sagte einer der Sanitäter.

Wenn für andere Menschen die Welt zusammenbricht, müssen sie funktionieren - emotionale Regungen haben in diesem Moment keinen Platz. Doch auch Rettungskräfte erleben Situationen und Eindrücke, die sie nicht loslassen. Das ICE-Unglück von Eschede war so ein Fall. Nach dem Einsatz brauchten viele der rund 2.000 Helfer Unterstützung und bekamen sie. Erstmals wurde damals nach einer Katastrophe in Deutschland eine umfangreiche und dauerhafte Unterstützung für Einsatzkräfte etabliert.

Leiden bis zum Selbstmord

«Es gab zunächst bei vielen Einsatzkräften einen sehr hohen Gesprächsbedarf», erinnert sich Jutta Helmerichs, die seinerzeit die «Koordinierungsstelle Einsatznachsorge» in Eschede leitete. «Viele Helfer sind erst einmal zusammengekommen und haben sich von ihren Erlebnissen erzählt», sagt Helmerichs. Solche Gespräche, die von Fachleuten begleitet wurden, halfen den meisten Rettern bei der Bewältigung des Erlebten.

Bei knapp sechs Prozent, etwas mehr als 100 Helfern, zeigten sich nach Helmerichs Worten allerdings langfristige Belastungen in Form von Berufsunfähigkeit, Problemen in der Partnerschaft oder beim Suchtverhalten. «Ein Helfer hat sich 2004 das Leben genommen», berichtet sie. In diesem Fall geht die Expertin aber davon aus, dass Eschede das Fass nur zum Überlaufen brachte. «Ein Einsatz allein hat nicht solche Folgen», sagt Helmerichs.

24 Stunden psychosoziale Unterstützung

Für die Opfer der Katastrophe war auch Otto Ernst Krasney zuständig. Wenige Tage nach dem Unfall, der 101 Menschen das Leben kostete, wurde er zum Bahn-Ombudsmann ernannt, der erste in Deutschland nach einem solchen Unglück. Der pensionierte Richter kümmerte sich als unparteiischer Schiedsmann um Schadenersatzzahlungen, die Erstattung der Kosten für medizinische Behandlungen und Psychotherapien für die Betroffenen.

Einmal habe sich eine taubstumme Frau bei ihm gemeldet, erzählt Krasney. Sie hatte in dem ICE gegenüber einer jungen Frau und deren kleinem Kind gesessen. Die Mutter starb bei der Katastrophe, das Kind wurde eingeklemmt und versuchte, mit der taubstummen Frau zu sprechen. Diese aber verstand es nicht. Nun quälte sie der Gedanke daran, auf das Kind nicht eingegangen zu sein. Der Ombudsmann veranlasste Monate nach dem Unglück ein Treffen zwischen der Frau und dem Kind, «nicht des Kindes, sondern der Frau wegen», sagt er.

Streit über Schmerzensgeld

Die Bahn richtete damals einen Soforthilfe-Fonds von zunächst fünf Millionen Mark ein. Bisher wurden mehr als 32 Millionen Euro an Schmerzensgeld und Schadenersatzleistungen gezahlt, in den nächsten Jahren werden weitere Millionen an Renten oder Unterhaltsansprüchen hinzukommen. Die einzige Streitfrage, die es gegeben habe, sei die Höhe des Schmerzensgeldes gewesen, so Krasney. Die Bahn zahlte den Hinterbliebenen pro Todesopfer 30.000 Mark; einige Angehörige versuchten vergeblich, vor Gericht ein höheres Schmerzensgeld zu erstreiten.

«Es ist ein Vakuum entstanden»

Zehn Jahre nach dem Unglück hat er noch immer Kontakt zu einigen Opfern und Hinterbliebenen. Man schreibe sich Briefe zu Weihnachten oder zu Neujahr, telefoniere in unregelmäßigen Abständen, sagt er. Zur Gedenkfeier in Eschede schickte Krasney Einladungsschreiben an über 200 Betroffene. 167 Personen haben ihr Kommen zugesagt, darunter auch Heinrich Löwen aus Niederbayern.

Der 63-Jährige, der bei der Katastrophe Frau und Tochter verlor, ist Gründer der Selbsthilfe Eschede, einer Interessengemeinschaft von Überlebenden und Hinterbliebenen. Er wird an diesem Dienstag vor der steinernen Gedenkwand mit den Namen der Todesopfer stehen und zu Dutzenden Menschen sprechen, deren Herz sich in diesem Moment genauso zusammenkrampft wie seines. «Zwei der engsten Vertrauten, zwei der Menschen, die mir am nächsten standen, sind weg. Es ist ein Vakuum entstanden», sagt Löwen.

Bis heute nicht verziehen

Die Selbsthilfegruppe gibt es immer noch, auch wenn vor fünf Jahren der Prozess gegen drei Beschuldigte wegen fahrlässiger Tötung eingestellt wurde. Löwen kann der Bahn bis heute nicht verzeihen: «Es ist das Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein. Es ist etwas im Ungleichgewicht.» Das Unternehmen habe ihn oder die anderen Betroffenen nie um Entschuldigung gebeten, nie habe ein Vertreter des Konzerns Fehler oder Schuld eingestanden, kritisiert er. Außerdem verbittert es ihn, dass das Jahresgehalt von Bahnchef Hartmut Mehdorn drei Millionen Euro beträgt und damit etwa doppelt so hoch ist wie das Schmerzensgeld, das für die 101 Todesopfer insgesamt gezahlt wurde. «Es geht mir nicht ums Geld, ich will damit ja nicht reich werden», erklärt er. «Es wäre nur ein Akt der Würdigung und Genugtuung gewesen. Aber wenn man sich diese Relation betrachtet, haben die das aus der Portokasse bezahlt.» (nz/AP)

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