Psychologe über Ernährungs-Mythen: Zum Essen gehört immer eine Pause
München - Viele Menschen nehmen sich vor, weniger Fleisch zu essen – erst recht nach Skandalen. Doch so einfach ist es nicht, Essgewohnheiten zu ändern. Christoph Klotter (64) kennt die Gründe und gibt Tipps. Klotter ist Professor für Ernährungspsychologie an der Hochschule Fulda.
Klotter: "Fleisch ist ein klar rückläufiger Trend"
AZ: Herr Klotter, nach dem Tönnies-Skandal haben sich viele vorgenommen, weniger Fleisch zu essen. Denken Sie, dass sich des Essverhalten nachhaltig ändert?
CHRISTOPH KLOTTER: Es hat sich schon davor etwas geändert. 2019 haben noch 33 Prozent der Deutschen gesagt: Täglich Fleisch muss sein. 2020 waren es noch 26 Prozent. Neben zunehmendem Veganismus und Vegetarismus wird der Fleischkonsum mittlerweile immer stärker mit einem schlechten Gewissen in Verbindung gebracht. Wir haben eine allmähliche Transformation. Tönnies hat das sicher noch verstärkt. Auch in der Lebensmittelbranche ist ein starker Trend zur Nachhaltigkeit erkennbar. Fleisch ist ein klar rückläufiger Trend. Die Millennials, also die nach 1980 Geborenen, schauen verstärkt auf die Qualität des Essens. Das hat bei Aldi seit 2015/16 zu einem Umsatzrückgang geführt. Um diese Kunden nicht zu verlieren, hat Aldi das mit Bio-Produkten kompensiert. Mittlerweile ist Aldi der größte Bio-Händler Europas.

Trotzdem: Vielen fällt's schwer, nur zwei Mal pro Woche Fleisch und Wurst zu essen. Es schmeckt ihnen – und schlimme Bilder verdrängt man wieder. Warum fällt man leicht zurück in alte Muster?
Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Das limbische System im Gehirn verlangt bedingungslos Belohnung. Und die Gewohnheit und beim Alten zu bleiben, ist eine unglaubliche Belohnung. Wir wissen zwar nun, wie Tönnies arbeitet, aber wir können Widersprüche gut wegstecken. Ein Psychologe aus den USA sagt, wir denken in Konstrukten. Diese können völlig widersprüchlich sein und trotzdem fühlen wir uns stimmig.
Ein Beispiel?
Wir streicheln unseren Hund und bezeichnen uns als tierlieb und holen uns danach eine Hähnchenbrust aus dem Kühlschrank, die unter furchtbaren Produktionsbedingungen entstanden ist. Fleisch steht in der Menschheitsgeschichte für Überleben, Wohlstand, Macht und männliches Geschlecht. Wer Fleisch isst, der hat’s geschafft. Deshalb ist die Gewohnheit Fleisch zu essen, schwer erschütterbar.
Klotter: "Wir brauchen eine Rekultivierung des Essens"
Was hilft dabei, Essgewohnheiten zu durchbrechen?
Man sollte nicht gleich daran denken, sie abzuschaffen, sondern sie zu modifizieren. Sagen Sie nicht: Nie mehr Fleisch! Sondern: Zwei Mal pro Woche und bessere Qualität! Und nicht das in Plastik verpackte vom Discounter.
Also muss man die Mahlzeiten besser planen?
Ja, am besten überlegt man schon am Wochenende, was man während der Woche essen möchte. Abends nach der Arbeit hungrig in den Supermarkt zu gehen, ist keine gute Strategie. Wir sollten das Besondere vorziehen – nicht das Nebenbei-Essen. Und selber kochen! 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung kochen kaum noch selbst.

Das kostet Zeit, aber viele sind häufig gestresst. Sind Stress und eine gesunde Ernährung ein Widerspruch in sich?
Ja, das ist ein Problem unserer flexibilisierten Arbeit. Früher hat sich der Tagesrhythmus an den Mahlzeiten orientiert. Heute drückt man das Essen eher weg vor lauter Arbeit. Wir können aber gegensteuern.
Wie?
Essen muss immer eine Pause sein. Ich muss mir Zeit nehmen. Wir brauchen eine Rekultivierung des Essens. Es ist ein Mythos, dass derjenige der gestresst ist, auch viel leistet. Eine Kultur der Erholung, Pausen und gute Ernährung sind wichtig für die Leistungsfähigkeit. Esskultur ist auch eine Pausenkultur. Sonst kann der Körper nicht verdauen. Es ist wichtig, die Arbeit zu unterbrechen. Kein Handy, kein TV. Essen als soziales Ereignis. Wer Pausen macht, arbeitet besser.
Weniger Geld für Lebensmittel: "Deutsche haben andere Schwerpunkte"
Viele Menschen, die schwer körperlich arbeiten, glauben, viel Fleisch zu brauchen.
Es ist ein Mythos, dass Fleisch kräftig macht. Es gibt zahllose fleischlose Produkte, die genauso kräftigen.
Welche?
Nüsse zum Beispiel. Sie sind auch für den Kopf ganz toll.
Die Deutschen geben weniger Geld für Lebensmittel aus als ihre europäischen Nachbarn. Warum ist das so?
Deutsche haben andere Schwerpunkte. Die Franzosen drücken es so aus: Die Deutschen fahren mit einem teuren Auto zu einem billigen Restaurant. Die Franzosen fahren mit einem billigen Auto zu einem teuren Restaurant.
Und wieso ist das so?
Es gibt eine historische Erklärung. In Italien und Frankreich wurde das Essen schon vor Jahrhunderten kultiviert, während die Deutschen eher für einfache Küche bekannt waren. Das findet sich auch in der Literatur wieder: In Johann Wolfgang von Goethe Roman, die Leiden des jungen Werther, verliebt sich Werther in Lotte, als sie Brot schneidet. Das wäre in einem französischen Roman undenkbar.
"Der Klimawandel wird das ökologische Bewusstsein verstärken"
Muss es Bio sein, wenn man sich gesund ernähren will?
Von den empirischen Befunden ist es nicht gesünder, aber die Produktionsmethoden sind in der Regel besser und fairer. Es ist mehr eine Frage der Ethik und teilweise auch des Geschmacks. Aber es wäre herablassend, allen Leuten Bio zu predigen. Bio kann sich nicht jeder leisten. Abgesehen davon, würde es auch nicht funktionieren, dass sich die Menschheit von Bio ernährt – und auch nicht vegan. Ich halte nichts davon, Menschen als blöde Fleischfresser zu beschimpfen. Man muss auch verstehen, warum es für viele sehr wichtig ist, Fleisch essen zu können.
Warum?
Fleisch zu essen, ist auch ein Symbol dafür, an gesellschaftlichem Wohlstand teilzuhaben. Das muss man ernst nehmen.
Wie wird sich unsere Esskultur in zehn, 15 Jahren verändert haben?
Der Klimawandel wird das ökologische Bewusstsein verstärken. Der Trend wird langsam aber deutlich zu nachhaltigen Produkten gehen.
Welche Produkte werden vom Markt verschwinden?
Ich kann mir vorstellen, dass es in 20 Jahren keine Tiefkühlpizza mehr gibt.
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