Entgleiste Leben – 25 Jahre nach dem Zugunglück von Eschede

Eschede - Die Pfingstferien 1998. Der 1. FC Kaiserslautern war kurz zuvor Meister geworden, Guildo Horn hatte beim europäischen Schlager-Grand-Prix für Aufsehen gesorgt. Doch an diese heiteren Bilder aus dieser Zeit vor 25 Jahren erinnern sich nur noch wenige.
Vermeintliche Ingenieurskunst
Unauslöschbar hingegen sind andere. Jene, die einen Zug zeigen. Weiße Waggons, die von der Form her eher an einen grotesk verzerrten Meterstab erinnern, so verschoben sind sie. Es sind diese Bilder, die sich ins kollektive Bewusstsein der Deutschen gebrannt haben. Ausgerechnet der ICE, ein Paradebeispiel für "Made in Germany" und deutsche Ingenieurskunst.
Bei 200 km/h brach ein Radreifen
Und dann die Katastrophe. Mit 200 Stundenkilometern ist der Intercity-Express 884 "Wilhelm Conrad Röntgen" am Vormittag des 3. Juni 1998 unterwegs, als ein Radreifen bei Eschede in der Lüneburger Heide bricht. Das Teil verhakt sich an einer Weiche, der ICE prallt gegen eine Brücke. Zerstört sie komplett. 101 Menschen sterben, 105 Menschen werden verletzt. Ein Teil von ihnen leidet bis heute unter den körperlichen Folgen. Vermutlich alle verfolgen noch die Gefühle der Erinnerung an damals.
Ein Buch über das Unglück
Die Angehörigen der Opfer erleben Trauer, aber auch Wut. Der Niederbayer Heinrich Löwen hat seine Frau Christl und seine Tochter Astrid bei dem Unglück verloren. Als ob das nicht schlimm genug ist, folgt ein langer Streit um die Schuld und Entschädigungen. Löwen hat ein Buch über das Unglück geschrieben. Leicht ist es ihm nicht gefallen: "Sich nochmals tief hineinzubegeben in die erste Zeit nach dem Unfall, die Fülle von Unterlagen zu sichten und Erinnerungen wachzurufen, war anstrengend", schreibt der Vilsbiburger.
Viele der Passagiere kamen aus Bayern
Zum 25. Jahrestag ist auch Ilse Aigner (CSU), Präsidentin des Bayerischen Landtags, nach Eschede gekommen. Denn ein Großteil der Passagiere war Menschen aus Bayern. Um 10.58 Uhr war der Zug in München gestartet. "Ein zugeworfener Kuss, ein Winken, ,bis später'. Routinen des Abschieds. Wir denken nicht daran, dass es für immer sein könnte", sagt Aigner am Samstag. Am Morgen des 3. Juni 1998 sei das nicht der Fall gewesen.
15 Jahre bis zur Entschuldigung
Neben Aigner haben auch Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP), Niedersachsens Verkehrsminister Olaf Lies (SPD) und Bahn-Chef Richard Lutz an der Gedenkfeier teilgenommen. Aigner verneigt sich vor den Opfern, aber auch vor den Hinterbliebenen, die einen "harten Kampf" hinter sich haben. Es dauerte 15 Jahre, bis die Opfer und die Hinterbliebenen endlich eine Entschuldigung von der Bahn hörten.
Der Bahnchef weichte vom Manuskript ab
Der damalige Bahnchef Rüdiger Grube sei von seinem juristisch intensivst ausgefeilten Manuskript abgewichen und habe die richtigen Worte gefunden, sagt Löwen. "Wir bedauern die Geschehnisse in Eschede zutiefst, wir können den Unfall nicht ungeschehen machen, aber wir wollen uns für das entstandene menschliche Leid bei Ihnen entschuldigen."
1.800 Retter waren im Einsatz
Aigner bedankte sich auch explizit bei den 1.800 Rettern. Bei vielen hinterließ der damalige Einsatz Spuren. Es war auch für erfahrene Rettungssanitäter schwer erträglich: Tote, Leichenteile, Schreie von Verletzten aus den Zugtrümmern. Die Tatsache, dass auch Retter traumatisiert werden können und professionelle Hilfe brauchen, rückte erst mit Eschede in den Fokus. Zwei Drittel von ihnen haben an professioneller psychischer Nachsorge teilgenommen, die erstmals angeboten wurde.
Traumatisierte Helfer
Sechs Prozent der Helfer entwickelten dennoch die langfristigen Symptome einer post-traumatischen Belastungsstörung. Heinrich Löwen hat das Buch, mit dem er die Folgen des Zugunglücks verarbeitet, vor allem seiner Frau und seiner Tochter gewidmet. "Zwei großartigen Menschen, die ein Segen waren, für alle, die sie kennenlernen durften. Erst nach ihrem Tod wurde mir das ganz bewusst."