Eltern in der Kinderfalle
Warum viele Jugendliche den Reifegrad eines Kleinkindes haben, was Erwachsene bei der Erziehung falsch machen – Analysen und Auswege des Kinder- und Jugendpsychiaters Michael Winterhoff
Sein erstes Buch „Warum unsere Kinder Tyrannen werden“ – trotz allen pädagogischen Bemühungen – wurde letztes Jahr sofort ein Bestseller. Nach der erschreckenden Analyse zeigt der Kinder- und Jugendpsychiater Michael Winterhoff jetzt Wege aus der Krise: „Tyrannen müssen nicht sein“ (Gütersloher Verlagshaus).
AZ: Herr Winterhoff, immer mehr Teenager werden zu Komasäufern, Spielsüchtigen und Ausbildungs-Versagern – und Sie wundern sich gar nicht.
MICHAEL WINTERHOFF: Das war schon Anfang der 90er Jahre abzusehen, dass das kommt. Viele Jugendliche heute haben den inneren Reifegrad eines Kindes unter drei Jahren, das nicht gelernt hat, seine Umwelt wahr- und auf andere Rücksicht zu nehmen oder etwas zu leisten. Sie haben die Vorstellung: Es gibt nur mich und ich kann alles steuern und bestimmen.
Das sind harte Anwürfe ...
. . . aber richtige. Es fehlt vielen Teenagern an Umsicht, Höflichkeit und Arbeitshaltung. Es geht ihnen um Lust und Lustbefriedigung. Sie wollen sich frei bedienen und sie denken nicht an morgen. Solange sie alles haben, sind sie friedlich. Aber wenn man ihnen etwas abverlangt, versagen sie oder ticken aus.
Und schuld sind die Eltern?
Schuld ist die Gesellschaft. Anfang der 90er Jahre erlebten wir in Deutschland einen enormen Wohlstand, der es Eltern schwer machte, Nein zu sagen und Kindern etwas abzuverlangen. Heute fehlt vielen Erwachsenen Anerkennung, Orientierung und Sicherheit. Das Kind bietet sich zur Kompensation an: Wenn mich da draußen keiner liebt, soll mich mein Kind lieben – das ist emotionaler Missbrauch am Kind.
Zwei Drittel der siebenjährigen Kinder, sagen Sie, sind psychisch auffällig.
Lehrer und Erzieher erleben das ja jeden Tag. Zwei von drei Kindern wirken rücksichtlos. Sie können keine vier Stunden in der Schule mehr still auf ihrem Stuhl sitzen, führen die einfachsten Aufträge nicht aus und befolgen keine Regeln, wie etwa nur dann zu reden, wenn man drankommt. Anstatt auf ihre Umwelt ausgerichtet zu sein, versuchen sie, die Umwelt auf sich auszurichten. Das ist ein Massenphänomen in allen Schichten.
Auch bürgerliche, gebildete und „intakte“ Familien züchten immer mehr Tyrannen?
Ja, auch die, und das ist alarmierend. In meiner Praxis habe ich so viele auffällige Kinder aus wohlhabenden bürgerlichen Familien – die Gruppe also, auf die die Gesellschaft für die Zukunft baut. Diese Eltern sind besonders engagiert und opferbereit und trotzdem sind diese Kinder auffällig.
Was machen sie falsch?
Es gibt drei Muster von Beziehungsstörungen: Die „partnerschaftliche Beziehung“, die „Projektion“ und die „Symbiose“. In der partnerschaftlichen Beziehung behandeln Eltern ihre Kinder wie Erwachsene, erklären alles, anstatt zu führen und lassen sie die Dinge selbst entscheiden.
Was ist so schlimm daran, einem Kind zu erklären, warum es aufräumen soll?
Es überfordert das Kind. Erst müssen seine Nervenzellen trainiert und seine Psyche gebildet werden. Das geht nur durch Wiederholung, nicht durch Verstehen. Eltern müssen ihr Kind vier Jahre lang anleiten, nach dem Essen seinen Teller wegzuräumen. Es lernt nicht durch Verstehen, sondern durch Tun.
Von seinem Kind geliebt werden zu wollen, kann doch nicht falsch sein.
Wenn Eltern in die Falle geraten, vom Kind nur noch geliebt werden zu wollen, also in einer „Projektion“ zu leben, ist die fatale Folge die: Vor lauter Angst, das Kind zu verärgern, setzen sie keine Grenzen. So entsteht eine Macht-Umkehr, man verlangt nichts mehr, mutet dem Kind keinen Konflikt zu. So kann ein Kind nicht reifen.
Was verstehen Sie unter Symbiose?
Sie ist die dritte und gravierendste Beziehungsstörung. Weil Eltern keine positive Perspektive in der Gesellschaft für sich sehen, suchen sie ihr Glück nur noch im Glück ihres Kindes. Sie fühlen und denken fürs Kind, gehen für das Kind in die Schule...
...und verfallen in den so genannten Förderwahn?
Viele Mütter sind nur noch Chauffeur, Hausaufgabenmacher, Rundum-Organisator, tun alles für das Kind anstatt für sich selbst. Sie entschuldigen alle Fehler des Kindes und kämpfen stattdessen gegendie Lehrer an. So ein Kind lernt nicht, Rücksicht zu nehmen, es bleibt in seiner Entwicklung stehen: ein selbstbezogener Narzisst.
Erklärt das die zunehmende Brutalität von Jugendlichen?
Natürlich. Wie kommt das wohl, dass viele so gefühlskalt in andere reintreten? Das tun sie, weil sie nicht unterscheiden können zwischen Gegenstand und Mensch. Die Angst, die Schmerzschreie der Opfer erreichen sie nicht, weil der Sinn dafür nicht entwickelt ist. Die Wahrnehmung ist einfach nicht da.
Wie reift ein Kind richtig?
Es muss erleben, dass es Eltern und Erzieher nicht ständig steuern kann. Dazu braucht es immer wieder die Ansprache: Schau, hier gibt es mich, nimm mich wahr, hier ist meine Grenze. Das können Eltern nur dann intuitiv richtig machen, wenn sie nicht in einer Beziehungsstörung zum Kind leben.
Was also raten Sie Eltern?
Selbstanalyse! Sie sollten sich fragen, ob sie unbewusst über das Kind kompensieren, ob sie sich steuern lassen. Wenn ja: Aus dem alten Schema aussteigen, anders reagieren!
Können Schule und Kindergarten noch was reparieren?
Auch dort müsste man dringend die Konzepte überprüfen, denn es gilt das gleiche: Offene Arbeit in Kindergärten ist problematisch. Wie sollen sich Kinder an Erziehern orientieren, wenn die Kinder selbst entscheiden, was sie wann tun wollen. Erst um die 15 tun Kinder Dinge für sich selbst. Bis dahin tun sie alles (lernen, aufräumen, Zähneputzen) für ihre Eltern und Erzieher. Und die müssen sie anleiten.
Interview: Irene Kleber
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