Eine böse Überraschung

Droht Gitti Gernegroß, Lisa Lieblich und Co das Aus? Die Kinderkommission des Bundestages hält Spielzeug und Süßigkeiten für eine teuflische Kombination – und stellt das „Ü-Ei“ in Frage. Politiker, Ärzte und Sammler proben den Aufstand.
Abendzeitung |
X
Sie haben den Artikel der Merkliste hinzugefügt.
zur Merkliste
Merken
0  Kommentare
lädt ... nicht eingeloggt
Teilen  AZ bei Google News
Das Ü-Ei: Spiel, Spaß und Spannung? Das sind mindestens zwei Dinge zu viel - meint die Kinderkommission des Deutschen Bundestages.
Martha Schlüter Das Ü-Ei: Spiel, Spaß und Spannung? Das sind mindestens zwei Dinge zu viel - meint die Kinderkommission des Deutschen Bundestages.

Droht Gitti Gernegroß, Lisa Lieblich und Co das Aus? Die Kinderkommission des Bundestages hält Spielzeug und Süßigkeiten für eine teuflische Kombination – und stellt das „Ü-Ei“ in Frage. Politiker, Ärzte und Sammler proben den Aufstand.

Wer hat einen rosa Kussmund, verführerisch lange Wimpern und zaubert Kindern wie Erwachsenen einen seligen Ausdruck aufs Gesicht? Es ist Lisa Lieblich, ein Schaf. Ginge es nach Miriam Gruß – kein Schaf, sondern FDP-Politikerin – hätte Madame Lieblich allerdings wohl nie das Licht der Welt erblickt. Denn sie gehört zu einer besonderen Spezies, ist eines von unzähligen Kleinstlebewesen, die seit 1974 aus Überraschungs-Eiern schlüpfen. Die will die Kinderkommission des Bundestages, deren Vorsitzende Gruß ist, nun im wahrsten Sinne des Wortes zerschlagen.

„Keine Koppelung von Nahrungsmitteln und Spielzeug“, heißt es in einem dreiseitigen Papier auf Bürokratendeutsch – unter der Überschrift: „Die Kinderkommission fordert“. Im Klartext: das Aus fürs Ei. Begründung: Kinder könnten eine böse Überraschung erleben und die im Ei steckende gelbe Verpackung für die Figuren verschlucken.

Wie viele Ü-Eier passen in ein Sommerloch?

Eine teuflische Kombination, meinen die Politiker, da „die Unterscheidung zwischen essbaren und nichtessbaren Teilen“ erschwert werde. Angesichts von weltweit bislang rund 30 Milliarden verkauften Exemplaren sozusagen eine Massenvernichtungswaffe, und ein Sicherheitsrisiko, das selbst der sonst so wachsame Innenminister Wolfgang Schäuble offenbar verschlafen hat.

Nicht aber die Kinderkommission: Verpackt mit ein paar wohlfeilen Forderungen, wie nach leichteren Schulbüchern, veröffentlichten die Abgeordneten ihre Kampfansage und gaben fleißig Interviews. Vielleicht in der Hoffnung auf einen Coup im Sommerloch – und ohne zu ahnen, dass sie sich ein ziemliches Ei gelegt hatten...

Am Morgen des nächsten Tages begann er, wieder einmal zuerst im Internet: ein regelrechter Aufstand der Ei-Ständigen. „Das sind doch auch bloß alles Überraschungs-Eier, diese Politiker“, schimpft ein Benutzer mit dem Pseudonym „Klauswido“ in einem Forum und plädiert für den Erhalt der Süßigkeit. „Wie viele Ü-Eier passen eigentlich in ein Sommerloch?“, fragt „menschmicha“. Und "Michi66" erhebt ironisch die Forderung, dass alle Läden, „die keinen abgetrennten Ü-Eier-Verzehrraum“ vorweisen können, sofort geschlossen werden müssen.

Westerwelle geht dazwischen

Vor allem Miriam Gruß, die die Forderung unterzeichnet hat, kriegt ihr Fett weg. „Wer seine Dissertation über die ,Effektivierung der Drittsektorenökonomie am Beispiel der Social Enterprises’ schreibt, muss wohl zwangsläufig zur Verbotsforderung für Ü-Eier kommen“, spottet „lutherratte“ in Anspielung auf die Doktorarbeit der 33-jährigen Augsburgerin, die in der FDP als Nachwuchshoffnung gilt.

Das bleibt auch der Berliner Parteizentrale nicht verborgen. Es rumort. Insider berichten, der Vorsitzende Guido Westerwelle sei „auf 180“, wolle sich den Permanentwahlkampf nicht durch faule Eier verhageln lassen. Und prompt rudert Gruß zurück. „Die FDP fordert kein Verbot von Überraschungseiern“, lässt die Politikerin verkünden. „In der Stellungnahme der Kommission ist von einem Verbot ausdrücklich nicht die Rede“, eiert sie herum. Obwohl jeder Internetnutzer sich auf der Seite des Bundestages den entsprechenden Schriftsatz herunterladen kann, in dem ausdrücklich die Entkoppelung von Nahrungsmitteln und Spielzeug verlangt wird. Nun will Gruß lediglich etwas von einem „Appell“ an die Eltern wissen, „darauf zu achten, was ihre Kinder konsumieren“.

Beckstein über die Faszination Eier

Doch zu spät. Für die anderen Parteien ist der Ü-Ei-Vorstoß ein gefundenes Fressen – sie legen sich verbal ins Zeug, wie sonst nur für die Ozonschicht oder Braunbären. Am Nachmittag schaltet sich gar der bayerische Ministerpräsident Günther Beckstein ein. Er wisse, welche Faszination Eier auf Kinder ausüben, gibt er im niederbayerischen Landshut etwas sybillinisch zu Protokoll. Und: „Wenn man nur alles erlauben würde, was die höchste Rationalität hat, dann würde das Leben keinen Spaß mehr machen.“ Die Junge Union wird fast lyrisch – und hofft, die Forderung werde „dahinschmelzen wie Schokolade in der Sommersonne“.

Auch Kinderärztin Katrin Lietke-Melbinger hält die Idee nicht gerade für das Ei des Kolumbus: „So ein Schmarrn! Überraschungs-Eier gehören seit Jahrzehnten zur Kindheit, allerdings nicht in die Hände von Kleinkindern. Das wissen die Eltern aber eh – und passen auf.“ In ihrer Münchner Praxis habe sie noch keinen Patienten gehabt, der die gelbe Plastikkapsel gegessen hätte. Selbst europaweit gibt es keinen einzigen dokumentierten Fall. Eher würden Centstücke verschluckt.

Kultisch verehrtes Produkt

Die Hauptzielgruppe will sich auf AZ-Nachfrage jedenfalls nur ungern mit hohlen Vollmilchkörpern anfreunden. "Das wäre echt eine Frechheit - und für Kinder ungefähr das Gleiche wie das Rauchverbot für manche Erwachsene", analysiert der elfjährige Nick.

Ernst nehmen’s auch andere: Sammler, die leidenschaftlich nach Figuren wie Gitti Gernegroß, Tina Tonleiter und Volker Vorsicht jagen. Auf der Internetseite eierlei.de haben sich ausgewachsene Diplom-Mathematiker, Finanzdienstleister und Grafikdesignerinnen ein Nest gebaut – und kämpfen für die aus der Fernsehwerbung bekannte, ihnen heilige Trinität („Spannung, Spiel, Schokolade“) des kultisch verehrten Produktes. Und fügen einem der metaphernreichsten Sujets der jüngsten Nachrichtengeschichte noch eine weitere hinzu: Es handle sich um ein „Windei“, das sicher niemals gelegt werde.

Timo Lokoschat

Lädt
Anmelden oder registrieren

Zum Login
Zu meinen Themen hinzufügen

Hinzufügen
Sie haben bereits von 15 Themen gewählt

Bearbeiten
Sie verfolgen dieses Thema bereits

Entfernen
Um "Meine AZ" nutzen zu können, müssen Sie der Datenspeicherung zustimmen.

Zustimmen
 
0 Kommentare
Bitte beachten Sie, dass die Kommentarfunktion unserer Artikel nur 72 Stunden nach Veröffentlichung zur Verfügung steht.
Noch keine Kommentare vorhanden.
merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.