„Ein bösartiger Manipulator“
Die eigene Tochter 24 Jahre lang gefangen gehalten, sie siebenmal geschwängert, ein totes Baby verheizt - das ist das Sinnbild des Bösen. Wer tut so etwas? - Ein Psychologe erklärt, was im Täter von Amstetten vorgeht, was die Ehefrau ahnen konnte und mit welchen Folgen die Kinder leben müssen.
AZ: Herr Lüdke, der Fall aus Amstetten schockiert ganz Europa. Wer tut so etwas schreckliches?
CHRISTIAN LÜDKE: Ein Täter mit sehr, sehr hoher krimineller Energie, bestimmt von sexueller Perversion und Allmachtsfantasien. Ein Mensch, der keine Gefühle hat, nicht einmal Reste von Gefühlen. Ein bösartiger Manipulator, der sich eine bizarre Welt aufbaut, die einzig und allein dazu dient, seine Triebe zu befriedigen.
Die Ehefrau von Josef F. behauptet, sie habe nichts von den Gefangenen gewusst. Der Keller sei „tabu“ gewesen. Ist das möglich?
Ich kann das nicht glauben. Ihr muss aufgefallen sein, dass ihr Mann für mehr Personen einkauft, als im Haushalt leben. Und was hat er gesagt, wenn er wieder in den Keller ging und Stunden dort verbrachte?
Sollte sie etwas geahnt haben – warum hat sie dann geschwiegen?
In 80 Prozent aller Missbrauchsfälle wissen die Mütter, was passiert. Aber die meisten haben Angst, sich mit dem eigenen Schicksal auseinanderzusetzen. Sie werden devot, entwickeln oft eine starke Form von Hörigkeit. Sie opfern lieber ihre Kinder, als sich einzugestehen, dass sie selbst Opfer sind. Und wenn ihr Fall dann bekannt wird, schweigen sie weiter, weil sie befürchten, sonst als Mittäterinnen zu gelten.
Was geschieht mit jemandem, der jahrelang kein Tageslicht zu sehen bekommt?
Die so genannten körpereigenen Stimmungsaufheller Serotonin und Dopamin können sich ohne Sonneneinstrahlung nicht entwickeln. Die Folge ist eine gefühlsmäßige Vollnarkose, eine schwere Depression. Hinzu kommt bei diesen Kindern, dass sie auch körperlich keine Möglichkeit hatten, sich zu entwickeln – zum Beispiel ihre Muskulatur.
Wie reagieren sie auf die „Welt draußen“?
Sie machen sicherlich einen stark verwirrten Eindruck und haben ein großes Entwicklungsdefizit. Man kann sich die Reizüberflutung kaum vorstellen, der sie jetzt ausgesetzt sind. Deshalb wäre es wichtig, dass sie fachgerecht betreut und von der Öffentlichkeit abgeschirmt werden. Man muss sie Schritt für Schritt an die Realität gewöhnen und nicht – wie bei Natascha Kampusch – den Fehler machen, sie sofort ins Scheinwerferlicht zu zerren.
Haben die Kinder, die im Keller aufwuchsen, eine Chance auf ein normales Leben?
Der Inzest wird natürlich ein ewiger Makel bleiben – für alle sechs. Aber dass die gefangenen Kinder überhaupt noch leben, zeigt, dass sie eine starke Konstitution haben. Offenbar haben sich Mutter und Kinder gegenseitig am Leben gehalten und so – vielleicht – eine relativ normale Bindung zueinander entwickelt. Wenn man den Kindern jetzt Erwachsene zur Seite stellt, von denen sie lernen können, und sie langsam mit Gleichaltrigen zusammenbringt, ist die Prognose gar nicht so schlecht.
Interview: Natalie Kettinger
Christian Lüdke ist Kinder- und Jugend-Psychotherapeut und arbeitet unter anderem als Traumatologe mit Entführungsopfern.