Dioxinbelastetes Fett wurde schon früher verarbeitet

Mit Dioxin belastete Industriefette aus Uetersen sind schon deutlich länger zu Tierfutter verarbeitet und verbreitet worden als bisher bekannt. Immer mehr Bundesländer trifft der Skandal. Doch wer zahlt für die Schlamperei beim Tierfutter?
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Die Lust auf Eier ist vielen Verbrauchern vergangen.
dpa Die Lust auf Eier ist vielen Verbrauchern vergangen.

BERLIN - Mit Dioxin belastete Industriefette aus Uetersen sind schon deutlich länger zu Tierfutter verarbeitet und verbreitet worden als bisher bekannt. Immer mehr Bundesländer trifft der Skandal. Doch wer zahlt für die Schlamperei beim Tierfutter?

Mit Dioxin belastete Industriefette aus Uetersen sind schon deutlich länger zu Tierfutter verarbeitet und verbreitet worden als bisher bekannt. Bereits im März 2010 seien erhöhte Dioxinwerte von einem privaten Institut gemessen worden, bestätigte das Landwirtschaftsministerium in Kiel am Freitag. Der Fall hätte sofort gemeldet werden müssen, so der Sprecher.

Der Schaden wird immer größer: Mit Hessen war am Donnerstag das elfte Bundesland betroffen. Bei Futterfetten der Firma Harles und Jentzsch aus dem schleswig- holsteinischen Uetersen wurde der Grenzwert für das Gift Dioxin deutlich überschritten. Das bestätigten Laboruntersuchungen, teilte das schleswig-holsteinische Agrarministerium am Donnerstag mit. Das Bundeslandwirtschaftsministerium hat bisher aber keine Erkenntnisse über gesundheitliche Auswirkungen bei den Verbrauchern.

Die Bauern wollen eine Entschädigung von der Futtermittelindustrie und fordern einen Hilfsfonds. Je nach Größe des Betriebs könne der Schaden wegen der Sperrung in die Millionen gehen, sagte der Generalsekretär des Deutschen Bauernverbandes, Helmut Born, der dpa. Die Firma, die die Verunreinigung mit Dioxin festgestellt hatte, sieht das eigene Überleben trotz Insolvenz-Gerüchten gesichert.

Rund 1000 Höfe in ganz Deutschland sind gesperrt

Bis zu 150 000 Tonnen Futter mit dem krebserregenden Gift hatten in Deutschland Unmengen von Schweinefleisch und Geflügelprodukten verseucht. Woher das Dioxin kommt, ist laut Bundesregierung immer noch unklar. Das von der Firma gelieferte Fett war von 25 Futterherstellern in vier Bundesländern eingemischt worden. Bei Harles und Jentzsch war die Verunreinigung von Futtermitteln mit Dioxin festgestellt worden, die zur Verunsicherung von Millionen Verbrauchern beim Gang in den Supermarkt geführt hat.

Die untersuchten Rückstellproben stammen aus dem vergangenen Jahr und waren von der Firma selbst entnommen worden – das Unternehmen hatte bereits im Dezember eine Dioxin-Warnung gegeben. Nach Angaben des Ministeriums in Kiel lagen die Dioxin-Werte bei neun von 20 Proben oberhalb der Grenzwerte, maximal hatten die Fette drei mal soviel Dioxin wie erlaubt.

Nach bisherigen Erkenntnissen des Ministeriums in Schleswig- Holstein sind alle kritischen Futterfett-Partien in einem Werk im niedersächsischen Bösel gemacht worden. Dort ist ein Partnerbetrieb von Harles und Jentzsch ebenso im Visier der Staatsanwaltschaft wie die Firma aus Uetersen selbst.

Bei Razzien im Firmensitz und in Bösel hatten die Behörden am Mittwoch zahlreiche Unterlagen beschlagnahmt. Den Geschäftsführern werden Verstöße gegen das Lebens- und Futtermittel-Gesetzbuch vorgeworfen. Nach Angaben des Niedersächsischen Landesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit wurde der Betrieb in Bösel illegal betrieben und deshalb nicht kontrolliert.

Harles und Jentzsch wies Gerüchte zurück, dass die Firma Insolvenz anmelden würde. „Es ist nicht so. Wir arbeiten weiter“, sagte Geschäftsführer Siegfried Sievert der dpa. Futtermittel würden zur Zeit nicht verkauft, aber das Geschäft mit technischen Fettsäuren sichere die Existenz.

Das niedersächsische Agrarministerium kritisierte die Firma. Für die Entschädigungsforderungen sei „als erster der Verursacher“ heranzuziehen – „auch wenn der versucht, sich aus der Affäre zu stehlen“, sagte der Sprecher des Ministeriums.

Den Schaden haben vor allem die Bauern, rund 1000 Höfe in ganz Deutschland sind gesperrt – deshalb fordert der Branchenverband einen Entschädigungsfonds. Nach Einschätzung von Generalsekretär Born kann die Sperrung eines Hofs den Besitzer „sehr schnell 10 000 oder 20 000 Euro Umsatz pro Woche“ kosten. Bei großen Putenmastbetrieben könnte sich der Schaden am Ende sogar auf bis zu eine Million Euro summieren. Für die Bauern sei das Mischfutterwerk das erste greifbare Glied in der Kette. Dieses habe den Landwirt beliefert und dadurch habe dieser einen Schaden erlitten, sagte Born. Der Futterlieferant wiederum könne dann bei dem Fettproduzenten Ansprüche geltend machen.

In Osthessen wurde am Donnerstag in einem Mastbetrieb Dioxin-Alarm geschlagen. 320 Ferkel hatten in Thüringen belastetes Futtermittel gefressen und waren danach nach Hessen geliefert worden. In Baden- Württemberg erklärte das zuständige Ministerium, dass möglicherweise dioxinbelastete Ware ins Land gelangt ist. Es handele sich dabei um Schlachttiere sowie pasteurisiertes Flüssigei.

Das ganze Ausmaß des Skandals ist weiter unklar

Die Verbraucher reagierten verunsichert. So befürchtet der Geflügelwirtschaftsverband in Thüringen zum Beispiel, dass vielen Menschen der Appetit auf Eier und Geflügelfleisch vergeht. „Momentan spüren wir davon noch nichts“, sagte der Geschäftsführer des Verbandes, Silvio Schmidt, der dpa. „Aber wir rechnen damit, dass in den kommenden Tagen die Nachfrage zurückgehen wird.“

Das ganze Ausmaß des Skandals ist weiter unklar. Die Industrie kann nach Angaben des Bundesverbandes der Lebensmittelkontrolleure (BVLK) gar nicht vollständig überprüft werden. Es fehlten bis zu 1500 staatliche Prüfer, um die Branche effektiv zu überwachen, sagte der BVLK-Vorsitzende Martin Müller der „Neuen Osnabrücker Zeitung“. Bisher seien bundesweit 2500 Kontrolleure für 1,1 Millionen Betriebe in der Lebensmittelindustrie zuständig. In manchen Regionen stehe nur ein Mitarbeiter für 1200 Firmen zur Verfügung.

Um den Dioxin-Skandal entbrannte ein Streit zwischen Nordrhein- Westfalen und Niedersachsen. Die Niedersachsen hätten das Problem unterschätzt und nur schleppend informiert, meinte NRW- Verbraucherschutzminister Johannes Remmel (Grüne). Hannover wies die Vorwürfe zurück. Der Bauernverband forderte, die Produktion von technischen Fetten und Fetten für das Futtermittel „physisch strikt voneinander zu trennen“.

dapd/dpa

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