Dieser Franke fand via Twitter seinen obdachlosen Vater
Diese Geschichte ist traurig, berührend und kurios zugleich: Norman Wolf (26) spürt seinen totgeglaubten Vater auf – mit einem Aufruf bei Twitter. Tausende Nutzer teilen den Beitrag, bieten ihre Hilfe an. Am Ende findet er ihn auf Hamburgs Straßen, ohne Wohnung und alkoholkrank. Am Mittwoch erscheint sein Buch darüber.
München - Wie fühlt es sich an, wenn man seinen Vater auf einer Bank am Boden schlafen sieht? Wenn man weiß, dass er Flaschen aus Abfalleimern fingert und im Winter zittert vor Kälte. Der Bart lang, der Blick leer.
Ein Gefühlschaos, das nur schwer vorstellbar ist. Norman Wolf (26) hat all das durchgemacht. Früher, daran erinnert sich der geborene Franke gut, haben er und sein Vater gemeinsam geangelt, Weihnachten gefeiert, sind in den Urlaub gefahren. Wie eine ganz normale Familie.
Suchanzeige über Twitter hat Erfolg
Doch dann kam der Absturz. Kündigung, Alkohol, Streit. Noch mehr Alkohol, ein Unfall. Ehe? Vorbei. Familienglück? Vorbei. Leben? Vorbei. Das dachte jedenfalls der heute 26-Jährige. Er hält seinen Vater lange für tot. Bis er herausfindet, dass er auf der Straße haust. Er beginnt, ihn über Twitter zu suchen. Mit Erfolg.
Ein Gespräch über extreme Emotionen, die Macht des Internets und das Buch, das nun daraus entstanden ist.
AZ: Herr Wolf, schon der Untertitel Ihres Buches offenbart einen sehr persönlichen, emotionalen Inhalt: "Wie ich meinen Papa an den Alkohol verlor und ihn auf der Straße wiederfand". Warum darf und soll dieses Schicksal jeder nachlesen können?
NORMAN WOLF: Mein Papa ist ein sehr öffentliches Thema geworden, als ich einen Such-Tweet verfasst habe. Ohne das Internet hätte ich ihn gar nicht finden können. Daher möchte ich einerseits mit dem Buch etwas zurückgeben. Denn ich bin den Menschen bei Twitter, die mir damals geholfen haben, sehr dankbar.

Norman Wolf: "Auch Obdachlose haben eine Geschichte"
Ein Grund ist die Twitter-Gemeinschaft. Was motivierte Sie noch zu Ihrem Buch?
Es ist auch eine Möglichkeit, den Knoten in mir zu lösen. Natürlich hat sich das Schreiben am Anfang wie ein Sturm im Kopf angefühlt. Aber dadurch konnte ich meine Emotionen auch ordnen. Jetzt komme ich besser mit dem Thema klar. Ich kann darüber reden, ohne dass mir sofort mulmig wird. Und es gibt noch einen anderen Grund für das Buch.
Welchen?
Es wird viel zu wenig über solche Themen gesprochen, sei es Obdachlosigkeit oder auch Alkoholismus. Es gibt viele Vorurteile, aber diese Menschen haben auch eine Geschichte und Angehörige. Wenn ich die Geschichte meines Papas erzähle, der vorher ein bürgerliches Leben geführt hat, das irgendwann den Bach runterging, kann man vielleicht besser nachvollziehen, wie Menschen auf der Straße dorthin gekommen sind.
Sie haben lange Zeit gedacht, Ihr Vater sei gestorben. Was hat den Anstoß gegeben, daran zu zweifeln?
Ich hatte ihn zum letzten Mal gesehen, als ich zwölf Jahre alt war. Zum letzten Mal gesprochen mit 16. Damals war er furchtbar betrunken und hat mir nicht gesagt, wo er sich aufhält. Es vergingen Jahre und ich habe keinen Anruf mehr von ihm bekommen. Daher habe ich lange Zeit mit dem Gedanken gelebt, dass er tot ist, und hatte mich damit auch abgefunden. Dann kam plötzlich die Nachricht: Er lebt!
Norman Wolf: "Das letzte Mal habe ich ihn mit zwölf gesehen"
Wer hat die Nachricht verschickt?
Die WhatsApp-Nachricht kam von einer mir unbekannten Nummer – mit vielen Details zu meinem Bruder, meiner Mutter, unseren Geburtsdaten und so weiter. Der Absender hat mir dann erzählt, er lebe in Hamburg und sei von meinem Vater angesprochen worden. Über Facebook hat der Mann meine Kontaktdaten herausgefunden. Ich dachte erst an einen ganz üblen Scherz.
Was hat Sie schließlich vom Gegenteil überzeugt?
Er hat mir ein Bild von meinem Vater geschickt – er sah furchtbar aus. Verkommen und alt und ganz anders als mein Papa, aber ich habe ihn definitiv erkannt. Aber der Kontakt brach irgendwann ab. Mein Vater hatte mich gesucht, jetzt wollte ich ihn auch finden. Deswegen habe ich diesen Twitter-Post aufgesetzt.
Darin haben Sie bei dem Kurznachrichtendienst öffentlich aufgerufen, ob jemand Ihren Vater kennt oder gesehen hat. Warum über Twitter?
Das war an Weihnachten 2017 und ich war gerade als Au-pair in Amerika. Und man sieht das ja auf Twitter immer wieder: Die einen suchen eine Wohnung, einen Job und Ähnliches.
Norman Wolf: "Ich hatte schon Angst davor"
Aber einen Vater?
Ich hatte schon Angst davor, weil es sehr persönlich ist und auch angreifbar macht. Aber ich hatte nichts zu verlieren.
Wie viele Nutzer haben sich daraufhin gemeldet?
Innerhalb einer Stunde wurde mein Aufruf etwa 5.000 Mal geteilt. Es ist immer noch surreal. Einen Tag später hat sich jemand gemeldet, der meinen Papa häufig in der Mittagspause sieht. Er konnte mir so viele Details von früher nennen – ich bekomme immer noch Gänsehaut, wenn ich daran denke. Dann wusste ich: Ich habe ihn gefunden. Am 3. Januar hat sich wieder jemand gemeldet, dass er für den nächsten Tag ein Telefonat arrangieren würde. In dieser Nacht habe ich kein Auge zugemacht.
Welche Gedanken rauben einem in dem Moment den Schlaf?
Ich habe versucht, mir vorzustellen, wie seine Stimme klingt und ob ich ihn wiedererkennen würde. Ich habe erstmal keinen Ton rausbekommen. Mein Papa hat einfach gesagt: "Hallo, hier ist der Papa." Er klang genauso wie früher. Das war so ein schönes Gefühl.
Norman Wolf: "Papa klang genauso wie früher"
Wie ist das erste Gespräch verlaufen?
Wir haben geredet, wie es uns geht, und ich war mir unsicher: Darf man einen Obdachlosen einfach so fragen, wie es ihm geht? Was fragt man da? Er hat gesagt, er kämpft sich durch – typisch für Papa.
Wie sieht sein Alltag auf der Straße aus?
Er sammelt Pfandflaschen und kauft sich davon Essen und Bier. Er hat gesagt, dass er niemals betteln würde. Im Winter sei es manchmal sehr kalt, aber es gehe schon. Ich habe erzählt, dass ich gerade als Au-pair in den USA arbeite und er sagte, er sei stolz auf mich. Das von ihm zu hören, war unglaublich. Nach so langer Zeit. In dem Moment wollte ich ihn so gerne sehen und umarmen. Nach dem Telefonat habe ich erstmal nur noch geweint.
Daraufhin haben Sie einen Heimflug organisiert. Wie war das Wiedersehen?
Wir haben ihn in der Sparkasse gefunden, dort hat er gerade geschlafen. Er lag zusammengekauert neben der Heizung. Ganz dicke Jacke, Mütze, Schal ums Gesicht, Rauschebart. Ich hätte ihn nicht erkannt, aber die anderen Obdachlosen hatten uns gesagt, dass er dort drin ist. In diesem Moment ist mir wieder die Frage gekommen: Wie konnte es so weit kommen? Auch er hat mich erstmal nicht erkannt. Was logisch ist, denn beim letzten Mal war ich ja noch ein Kind. Ich habe ihn in den Arm genommen und er hat geweint. Ich auch.

Norman Wolf: "Wir haben ihn schlafend in der Sparkasse gefunden"
Welche Beziehung haben Sie heute zu ihm?
Die Frage ist: Wie viel ist heute noch von dem übrig, wie mein Vater früher war? Nach zehn Jahren Alkohol und Straße ist viel kaputt gegangen. Er kennt noch die Geschichten von früher, hat noch die Eigenschaften, seinen Humor, aber er ist eher eine Silhouette der Person, die er mal war. Das macht es schwierig, von einem richtigen Vater-Sohn-Verhältnis zu sprechen.
Sie haben aber Kontakt?
Ich finde es total schön, ihn zu treffen. Ich habe ihn seither zweimal in Hamburg gesehen.
Telefonieren geht nicht?
Das würde ich zwar sehr gerne, aber er hat nun mal keine feste Adresse, kein Mobiltelefon. Ich kann nicht nach Hamburg fahren und einfach sagen: Ich suche ihn jetzt – weil ich gar nicht weiß, wo er ist. Ich könnte ihm natürlich ein Mobiltelefon besorgen, aber er verliert alles, was man ihm gibt. Es wird auch viel geklaut unter den Obdachlosen. Er weiß auch oft nicht mehr, dass er Dinge bekommen hat. Ein Handy wäre also schneller weg, als ich ihn anrufen könnte. Er könnte zudem nirgends den Akku laden.
Das klingt sehr nervraubend.
Ich habe mittlerweile ein paar gute Kontakte in Hamburg mit teils fremden Leuten, die meinen Papa auf der Straße wiedererkennen und mir dann Rückmeldung geben. Manchmal telefonieren wir auch, weil ihm jemand sein Handy reicht.
Norman Wolf:"...er möchte keine Regeln"
Was macht es mit Ihnen, dass Sie ihm nicht zu einem geregelten Leben weg von der Straße helfen können?
Ich habe immer noch die Hoffnung, dass irgendwo in ihm der Wunsch ist. Aber er möchte sich keine Vorschriften machen lassen, er möchte nichts Betreutes, er möchte keine Regeln ...
Weiß er von dem Buch?
Natürlich habe ich ihm davon erzählt und ihm gesagt, dass das vielen eine Botschaft vermitteln kann. Er war stolz und hat sich Freude. Ein paar Monate später wusste er nichts mehr davon. Er vergisst viel.
Sie haben viel Rückmeldung und Unterstützung auf den Such-Tweet bekommen. Gab es auch negative Reaktionen?
Massiv. Zum Beispiel: Ich würde mir ein goldenes Näschen auf dem Rücken meines Vaters verdienen wollen. Solche Kommentare kommen von Menschen, die einfach nicht in meiner Haut stecken. Dazu kommt: Es gibt Menschen, die im Internet gerne Hass verbreiten. Sobald ein solcher Sturm im Netz entsteht, ist es sehr leicht, mitzumachen und einen beleidigenden Tweet zu schreiben – etwa, dass ich meinen Vater in der Gosse verrecken lassen würde und ein verzogener Narzisst sei. Als hätte ich nicht alles versucht, ihn von der Straße zu bekommen. Ich habe so viele Behörden und Verbände kontaktiert, aber es hat einfach nicht gefruchtet, weil sich mein Papa gegen Hilfe stemmt.
Norman Wolf: "Es gibt Menschen, die gerne Hass verbreiten"
Wie geht man mit solchen Hassbotschaften um?
Ich weiß für mich, dass ich das mache, um aufzuklären, eine Botschaft zu senden und meinen Kopf aufzuräumen. Denn das ist nicht nur die Geschichte meines Vaters, sondern auch meine. Ich habe viel von meiner Kindheit verloren, weil ich darunter gelitten habe, was passiert ist. Ich habe ein Recht darauf, meine Geschichte zu erzählen. Ich mache meinen Vater in dem Buch ja auch nicht runter. Es geht darum, zu zeigen, dass er nicht schuld daran hat, kein böser Mensch ist. Es geht darum, zu zeigen, dass der Alkoholismus schuld ist.
Man besinnt sich bei einem Shitstorm also am besten auf seine Absichten und schafft Distanz zu den Angriffen?
Man muss sich eines klar machen: Das sind Menschen, die dich als Person nicht kennen. All ihre Reaktionen beziehen sich auf eine Online-Präsenz oder Zeitungsberichte, wie es in meinem Fall war. Ihre unsachlichen Äußerungen sagen mehr über sie selbst aus als über mich.

Wolf: "Das sind Menschen, die dich als Person nicht kennen"
Würden Sie es trotzdem nochmal wagen, Ihren Vater öffentlich im Internet zu suchen?
Ja! Ich würde nicht mit dem Gedanken leben wollen, dass mein Papa irgendwo da draußen ist und ich nicht weiß wo. Dafür tue ich mir auch gern den Internet-Stress an. Auch wenn das jetzt nicht meine Wunschsituation ist – natürlich hätte ich meinen Vater gerne in einer Wohnung. Aber ich muss auch akzeptieren, was er möchte, wie er leben will und was seine Grenzen sind.
Norman Wolf: Die Fische schlafen noch. Wie ich meinen Papa an den Alkohol verlor und ihn auf der Straße wiederfand; mvg Verlag, 14, 99 Euro.
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