Die Schreie, das Blut, die toten Mädchen - Der Schock der überlebenden Schüler
WINNNENDEN - „Das einzige, was ich fühle ist Hass, Wut und ganz große Trauer." Am Tag nach dem Amoklauf von Winnenden versuchen die Menschen die Tragödie zu verarbeiten. Doch der Schock sitzt tief. Auch der Schüler Patrick Seiffert hat noch nicht richtig realisiert, was er erlebt hat.
Die Kinder haben heute keine Taschen oder Ranzen, sie bringen Blumen oder Kerzen mit zur Albertville Realschule. Auch Erwachsene sind gekommen, Männer wischen sich die Tränen aus den Augen. Sie wollen ihre Trauer zum Ausdruck bringen. Auf dem kleinen Vorplatz der Schule stapeln sich die Blumen, dazwischen Grablichter, Zettel und Plakate.
Keine hundert Meter entfernt in der Hermann-Schwab-Halle hat das Rote Kreuz ein psychologisches Beratungszentrum eingerichtet. Patrick Seiffert ist dort. Der schüchterne, schmale 15-Jährige, war am Tag zuvor Zeuge des Massakers. Er saß im Deutschunterricht der 9c in Raum 305, als Tim Kretschmer ohne Vorwarnung in das Klassenzimmer stürmte und losballerte. Patrick Seiffert sah mit an, wie drei seiner Mitschülerinnen per Kopfschuss niedergestreckt wurden, er selbst konnte sich hinter dem Pult in Sicherheit bringen.
„Bis dahin hatte ich keine Schmerzen"
Ein bierdeckelgroßes Pflaster auf seiner linken Wange zeugt von dem Schrecken, den er erlebt hat. Beim Sprechen schaut der Junge verunsichert auf den Boden, greift nach der Hand seiner Mutter, die ihn zur psychologischen Beratung begleitet hat. „Es ging alles ganz schnell", sagt er. „Ich habe kaum Erinnerungen an die Minuten, in denen der Täter im Raum war. Ich weiß nur, dass um mich herum alle geschrieen haben. Ich schloss die Augen und versuchte mich zu schützen." Als alles vorbei war, gab es einen Moment der Stille, Patrick Seiffert sah die toten Mädchen, weinende Mitschüler, Chaos. Und Blut, viel Blut. Er selbst wurde auch verletzt. „Bis dahin hatte ich keine Schmerzen", sagt er. Drei Kugeln hatten ihn gestreift. Im Gesicht, am Rücken, an der Schulter. „Alle hatten Angst, dass der noch mal wieder kommen würde, wir hörten noch Schüsse, aber es dauerte nicht lange, bis die Polizei da war und uns aus dem Klassenzimmer befreite."
Patrick Seiffert hat noch nicht richtig realisiert, was er erlebt hat. „Ich kann mir im Moment nicht vorstellen, je wieder in diese Schule zu gehen, aber die Beratung hat mir schon ein bisschen geholfen." Den nächsten Termin hat Patrick Seiffert beim Arzt. Seine Schusswunden werden schnell verheilen. Viel schlimmer aber sind die seelischen Verletzungen, die er Jahre mit sich herumtragen wird.
Glück im Unglück
Wie Patrick Seiffert ergeht es vielen in Winnenden. Die 15-jährige Nadine Schmidt hatte Glück im Unglück. Sie macht gerade ein Praktikum, nur deshalb war sie am Tag des Attentats nicht in der Schule, nicht in einer der Klassen, in denen Tim Kretschmer wütete. Sie telefonierte über Handy mit einer Klassenkameradin, hörte die Schüsse und Geschrei. „Ich kann mir gar nicht vorstellen, was meine Freunde gerade durchmachen, die können alle nicht darüber reden", sagt sie. „Ich habe große Angst, dass so etwas wieder passieren könnte."
Nadine Schmidt hatte ein paar Mal Kontakt zu dem Amokläufer Tim Kretzschmer. Er sei immer alleine gewesen, sagt sie, „aber er hat immer nur von sich geredet, er war ein Angeber". Zusammen mit ihrer Mutter steht Nadine Schmidt vor dem Blumenmeer an der Schule. Ihre Mutter Viola hofft nur, dass ihre Tochter und die anderen Kinder das Geschehene verkraften. „Alle hier stehen unter Schock, es ist unfassbar. Ich kann mir nicht erklären, wie es in einem Jungen so brodeln kann, dass er so etwas anrichtet.“
Hass, Wut und große Trauer
Frau Kaiser kannte die junge Referendarin, die Tim Kretschmer durch die verschlossene Tür erschossen hat. „Das einzige, was ich fühle ist Hass, Wut und ganz große Trauer." Und: „Ich wollte das sehen, ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen und es hilft mir mit den Menschen hier zu reden, egal ob ich sie kenne oder nicht."
Auch für Jasmin Maurer (18) ist es ein trauriger Tag: Eine Freundin geht auf die Realschule. Die ist verletzt, erfuhr sie von einem Polizisten, als sie nach den Schüssen an der Schule ankam. Jasmin machte sich Hoffnungen, bis gestern. Da erfuhr sie: Stefanie, ihre Freundin, hat ihre Verletzungen nicht überlebt. Im Blumenladen in der Innenstadt steht Daniela Boll, 36, hinter dem Tresen. Im Minutentakt kommen Schüler und Eltern in ihren Laden und kaufen Blumen: „Ich würde heute lieber Getränke verkaufen", sagt sie. „Es ist so schlimm mit anzusehen, wie die jungen Menschen leiden."
Bastian Henrichs
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