Die Rückkehr des verlorenen Sohns

Eine indische Familie findet sich nach Jahrzehnten wieder, doch der Weg zurück zur Normalität ist schwierig. Sohn Saroo suchte jahrelang im Internet.
Khandwa/Indien - Ein Zug spuckt Saroo Brierley aus in eine chaotische Landschaft, die ihn bis in seine Träume verfolgt hat. Er weicht Straßenverkäufern mit ihren Wagen aus, Autorikschas hupen ihn an und Fahrradfahrer machen im letzten Moment einen Bogen um ihn. Saroo ist hier ein Fremder und doch ist diese überbevölkerte Stadt in Indien seine Heimat. Zumindest war sie es, bis er vor fast 25 Jahren seiner Familie entrissen wurde. Als kleiner Junge verlor er auf einer Zugfahrt seinen älteren Bruder, stieg in den falschen Waggon ein und fand sich 1.500 Kilometer entfernt in Kalkutta wieder. Er war nie zur Schule gegangen, wusste weder seinen Nachnamen, noch den Namen seiner Heimatstadt. Irgendwann landete er im Waisenhaus und schließlich auf der anderen Seite der Welt – bei Adoptiveltern auf der australischen Insel Tasmanien.
Jahrelang suchte Saroo im Internet, bis er den Weg zurück in die Stadt seiner Kindheit, Khandwa in Indien, fand. Jetzt ist er 30 und seine Kindheitserinnerungen und die Satellitenbilder seines Heimatorts, die er stundenlang studiert hatte, führen ihn zurück in das Viertel, in dem er aufgewachsen ist. Alles wirkt kleiner, aber die Gerüche und Geräusche sind dieselben wie damals.
Mit einem seiner Kinderfotos geht er von Haus zu Haus, sagt den Namen seiner Mutter, seiner Geschwister, wartet auf ein Signal des Wiedererkennens in ihren Gesichtern. Doch viele schütteln den Kopf, nichts. Waren sie tot? Hatte er seine Familie für immer verloren?
„Dein Saroo ist zurück“
Immer mehr Nachbarn versammeln sich um den Mann, der aussieht wie sie, aber kaum ein Wort Hindi spricht. Ein Mann nimmt das Foto aus Saroos Hand und fordert ihn auf zu warten.
Fatima, Saroos Mutter, sitzt vor ihrem Haus, als der Nachbar auf sie zugelaufen kommt und ruft: „Dein Saroo ist zurück.“ Immer wieder hatte sie in den vergangenen Jahren nach ihm gesucht, die Hoffnung nie ganz aufgegeben. Sie geht ihre kleine Gasse entlang und sieht eine Menschenmenge auf sich zukommen – es ist wie eine Prozession. In ihrer Mitte ist ein junger Mann, der immer wieder den Namen ihrer Familie ruft. Seiner Familie.
Er rennt auf sie zu, sie auf ihn. Beiden fehlen die Worte, sie sagen einfach nichts, umarmen sich, weinen. Die Narbe von dem Pferdetritt ist immer noch auf seiner Stirn und er hat auch noch das Grübchen auf seinem Kinn. Als Saroo Fatima das letzte Mal gesehen hatte, war sie um die dreißig. Jetzt sieht sie so viel älter aus, aber hinter dem zerfurchten Gesicht erkennt er sie wieder: seine Mutter.
Die Familie ist wieder vereint, endlich, nach fast 25 Jahren des Bangens und Hoffens. Die Frage, ob Saroo, ob Fatima noch leben, ist beantwortet, doch nach dem Happy End stellen sich neue: Wie kann die Familie, die jahrzehntelang durch tausende Kilometer und verschiedene Kulturen getrennt war, wieder zusammenfinden?
Sprach- und Kulturbarrieren
Fatima wohnt immer noch in dem winzigen Betonhäuschen, das Dach aus Bambus und rostigem Metall, an den Wänden blättert der Putz ab. Dorthin führt sie ihren Sohn, doch sie sitzen sich nur stumm gegenüber. Die wenigen Brocken Hindi, die Saroo spricht, helfen kaum weiter und auch Fatima kann kein Englisch. Mit Gesten und der Hilfe des einen oder anderen englischsprachigen Bekannten kommunizieren sie in den folgenden zehn Tagen. Oft sitzt Saroo nur da und beobachtet seine Familie. Auch andere Dinge ist er nicht mehr gewohnt. Er muss abgefülltes Wasser kaufen, wie alle anderen aus einem Schlauch vor dem Haus zu trinken, traut er sich nicht.
Die zehn Tage sind schnell vorbei und der verlorene Sohn muss zurück. In seine zweite Heimat, wo seine andere Familie wartet und seine Freundin, mit der er ein Haus kaufen will. Er arbeitet weiter im Familienunternehmen – dem seiner australischen Familie – und beginnt Fatima monatlich Geld zu schicken. Doch sie will es nicht, will lieber ihren Sohn bei sich haben. Die Telefongespräche zwischen Mutter und Sohn schleppen sich dahin, ein Übersetzer muss jedes Mal dabei sein. Sie fragt, ob er genug isst und warum er nicht öfter anruft. Was bringt es, sagt er, wir sprechen nicht einmal dieselbe Sprache.
„Dann bleib doch einfach bei deiner neuen Familie“, sagt Fatima bitter. „Mit meinem Herz und meiner Seele habe ich zum Allmächtigen gebetet. Ich hoffte, dass mein Sohn zurückkommt. Warum bleiben meine Gebete ungehört?“ Immer wieder führen die Gespräche im Kreis, sie will nicht, dass Saroo zurück nach Indien kommt, wo nur Armut ist. Aber selbst will sie auch nicht nach Australien, in dieses völlig fremde Land.
Doch zwischendurch bricht immer wieder die Freude heraus – über ihre wundersame Wiedervereinigung. „Es ist, als wäre ein Gewicht von meinen Schultern genommen worden“, sagt Saroo. „Anstatt abends schlafen zu gehen und mich zu fragen, wo meine Familie ist und ob sie noch lebt, kann ich die Frage jetzt ruhen lassen.“ Und auch Fatima sagt Saroos Rückkehr habe ihr „geistigen Frieden“ gebracht. Sie will ihren Sohn nur ab und zu sehen, seine Stimme hören, auch wenn es nur kurz ist. „Im Moment ist es genug für mich, dass ich zu ihm gegangen bin und er mich Amma genannt hat.“ Mutter.