Die Pille davor

MÜNCHEN - Seit zehn Jahren sorgt Viagra für Spaß im Bett – und jede Menge Spam. Die Betreffzeilen lauten "Man lebt nur einmal" oder "Ficken wie ein Weltmeister". Millionenfach penetrieren die Betrüger-Mails zurzeit wieder die Postfächer.
„Wer es übertreibt, ist Schuld, wenn die Herzallerliebste am Ende einen Y-förmigen Sarg braucht“, warnt ein gewisser Walid Fickri in seiner Mail an die AZ-Redaktion. „Zur Not hilft es, sich ein nacktes Großmütterchen vorzustellen.“ Danke, Herr Fickri! Und Gruß an Ihre lieben Kollegen.
Sie heißen – nomen est wieder omen – Davy Liebe, Erwin Gunn, Vicki Vliegen und, etwas seriöser, Baldrian von Lang. Die Betreffzeilen lauten „Man lebt nur einmal“ oder – gar nicht seriös – „Ficken wie ein Weltmeister“. Millionenfach penetrieren die Betrüger-Mails zurzeit wieder die Postfächer. Und treiben Achim Janik das Blut in den Kopf. Er ist Sprecher von Pfizer, dem Hersteller von Viagra beziehungsweise „Viaaaaaaaaaaaagra“, wie Herr Fickri und Frau Vliegen gern formulieren, um die Stichwortsuche in den Spamfiltern zu unterlaufen. „Mit diesen Mails haben wir nichts zu tun“, betont Janik und bedauert vielmals.
Dauererektionen in der Hose
Dabei gibt’s für das Unternehmen heute Grund zum Feiern. Denn vor zehn Jahren, am 27. März 1998, wurde die blaue Pille in den USA zugelassen. Eigentlich wollte Pfizer ja ein Herzmedikament entwickeln; doch Sildenafil wirkte nicht am Herzen, sondern in der Hose. Einige Probanden bekamen Dauererektionen. „Es war auffällig, dass die Versuchspersonen die Tabletten nicht mehr zurückgeben wollten“, erinnert sich Brian Klee, medizinischer Direktor von Pfizer.
Der rautenförmige Problemlöser eroberte die Schlafzimmer im Sturm. Pro Sekunde werden heute weltweit vier der Tabletten geschluckt. Eine Million Deutsche haben’s getan.
Für den Münchner Harald Z. war es die Pille zum Glück, ein kleiner Schritt zum Arzt und ein großer für die Partnerschaft. „Kein Mann ist glücklich über Erektionstörungen“, sagt der 57-Jährige der AZ. „Am Anfang dachte ich noch, es wäre einmalig. Ich bin doch noch nicht so alt.“ Der Techniker wollte das Problem nicht wahrhaben, zog sich immer mehr zurück – bis seine Frau Stefanie die Initiative ergriff.
Langes Zögern
„Als ich den ersten Versuch machte, Harald darauf anzusprechen, reagierte er aggressiv“, erzählt sie. „Irgendwann habe ich es nochmal probiert – und wir hatten ein sehr gutes Gespräch.“ Er machte einen Termin beim Urologen. Nach langem Zögern.
Dabei steht Harald Z. mit seinem Problem nicht alleine. Rund sechs Millionen Männer leiden in Deutschland Experten zufolge an „erektiler Dysfunktion“. Das ist jeder Fünfte zwischen 30 und 80. „Aber nur ein Bruchteil sucht fachlichen Rat, wahrscheinlich rund zehn bis 15 Prozent der Betroffenen“, sagt die Münchner Urologin Kornelia Hackl.
Immerhin: Denn bis in die 60er Jahre wurde mangelndes Stehvermögen komplett totgeschwiegen, es gab keine impotenten Männer, nur ungelenke Frauen. Erst mit der sexuellen Befreiung in den Siebzigern kam das Tabu-Thema zur Sprache. Passende Präparate gab’s trotzdem nicht – abgesehen von Austern, Muskatnuss und Stechapfel. Und den hydraulischen Penispumpen. Bis 1998. Bis Viagra.
Hugh Hefner: „Das größte Geschenk auf Erden“
„Das größte Geschenk auf Erden“, verkündet der 81-jährige „Playboy“-Gründer Hugh Hefner bis heute. Und protzt: „Ich nehme die Pille täglich.“ Harald Z. schlägt etwas leisere Töne an: „Unser Liebesleben ist wieder fast wie früher. Wir erleben und genießen unsere Sexualität heute viel bewusster.“
Auch der Münchner Scheidungsanwalt Hermann Messmer hat sich – berufsbedingt – seine Gedanken zu Viagra gemacht: „Für die Paare ist es Fluch und Segen zugleich“, sagt er. Warum? „Nun, nicht alle Tabletten werden für den ehelichen Verkehr eingesetzt. Der Seitensprung gehört zu den Risiken und Nebenwirkungen, über die in der Packungsbeilage nichts steht“, erläutert er schmunzelnd. Es gebe durchaus „Viagra-Scheidungen“.
Auch reifere Frauen fühlen sich laut Messmer manchmal etwas überrumpelt: „Einige von ihnen haben mit dem Thema Sex weitgehend abgeschlossen – und plötzlich einen Stier im Bett.“
Timo Lokoschat