Die Kracher
Von wegen bloß Paprika. Kartoffelchips, fettig und meist total ungesund, werden zum Lifestyle-Produkt – und der Phantasie ist keine Grenzen gesetzt
MÜNCHEN Keine WM, keine Olympiade, nichts, was die Deutschen massenhaft vor der Fernseher zwingt – und dennoch. Der Absatz von Kartoffelchips stieg im Vergleich zum Vorjahr um 12,2 Prozent. Haben die Deutsche ein neues Sucht-Mittel?
Ein Kilo Chips verspeist der Deutsche pro Jahr, Tendenz steigend. Aber noch immer reicht er nicht an die Spitzenreiter ran. Holländer und Briten vertilgen das Dreifache. Aber die Branche in Deutschland schläft nicht.
Zwar ist die Paprika-Mischung noch immer der Klassiker. Aber der Trend geht zu exotischen Ländern und gesünder klingenden Geschmacksrichtungen: „Brasiliens Feuer“ (mit rosa und schwarzem Pfeffer“, „Indiens Gold“ (mit Curry) oder „Japans Herz“ (mit Wasabi) suggeriert Fernweh auf der Zunge.
In die Bio-Ecke soll „Naturals“ (mit Balsamico) verweisen oder „Lisa’s“ (mit Rosmarin und Meersalz). Klingt alles gut, was aber ist dran und drin?
Die Stiftung Warentest hat Knusperei-Produkte unter die Lupe genommen und tritt zum Teil kräftig auf die Spaßbremse. Bio-Chips schneiden schlecht ab, und die Masse der getesteten Kracher haben mindestens 30 Prozent Fett. Mit einer halben Tüte à 100 Gramm haben Frauen die halbe Tagesration an Fett bereits intus. Bei Männern sieht es nur unwesentlich besser aus.
Die Hersteller geben die Fettangaben „pro Portion“ an. Das sind dann aber nur 30 Gramm: „Aber Hand aufs Herz“, schreibt Warentest: „Wer legt die Tüte nach ein paar Chips einfach wieder weg?“ (Suchtfaktor siehe Kasten.) Das wissen die Hersteller, und sie wollen auch gar nicht bremsen: „Erst einmal aufgemacht, schon gibt es kein Halten mehr“, triumphiert die „intersnack“ GmbH.
Unter deren Dach produzieren Haushaltsnamen wie „Funny Frisch“ oder Chio Kreationen wie „Chicken Nuggets Sweet Chili Style“ oder „Burger Style“. Die hatten bei der hausinternen Wahl zu „Chips des Jahres“ allerdings keine Chance gegen einen weiteren Ausflug in die Fastfood-Welt: „Rot-weiß Schranke“ gewann 2012.
So weit ist’s gekommen mit einer Erfindung der Geschwister Crum in Saragota Springs im US-Bundesstaat New York. Dort soll vor 160 Jahren Kate Crum ein schmales Stück Kartoffel ins Fett gefallen sein, das Resultat machte Karriere auf der Speisekarte von Crums Restaurant. Eine andere Version besagt, Bruder George Crum habe dem Industriellen Cornelius Vanderbilt eins auswischen wollen, Dem waren Crums Bratkartoffeln zu dick geschnitten. Das übertrieben dünne Scheibchen schmeckte dem Milliardär aber trotzdem.
So weit wie die Britin Debbie Taylor allerdings ging er nicht. Die Hausfrau und Mutter kocht zwar angeblich für ihre Familie normal. Sie selbst allerdings ist täglich eine Tüte „Monster Munch“ als Hauptnahrungsmittel. Vergeblich soll der Ehemann versucht haben sie vom knirschenden Laster abzubringen.
Warum aufhören so schwer ist
Warum nur kann man nicht aufhören mit dem Essen? Bei der „Chipssucht“ schlägt wieder mal die ganz frühe Menschheitsgeschichte durch, weiß „Test“: Die Sehnsucht nach Salz und die Lust auf Fett sind tief in unserem Organismus angelegt.
Unsere Vorfahren kamen nur schwer an Salz, es ist aber wichtiger Bestandteil ausgewogener Ernährung. Die Natur erfand einen Biomechanismus, der bei Salzkonsum einen belohnenden Botenstoff ausschüttet. Tierversuche australischer Forscher ergaben, dass Mäusehirne Dopamin ausschütten, wenn sie nach einem Salzentzug wieder an das begehrte Gewürz rankommen.
Dopamin steigert das Wohlgefühl. Das trifft auch auf Endocannabinoide zu, körpereigene Stoffe, die dem Wirkstoff von Marihuana ähneln. Die werden beim Fettkonsum verstärkt ausgeschüttet, ergaben US-Studien. Fett war wie Salz schwer zu bekommen im Neandertal oder der ostafrikanischen Steppe. Der Mangel an Salz und Fett ist verschwunden, die Lust auf Belohnung ist geblieben.