Die blaue Landkarte der USA: Am Pranger des Internets

Die Schandpfähle des Mittelalters machen im Netz eine neue Karriere. US-Politikerin Sarah Palin markiert ihre politischen Gegner mit Fadenkreuzen – und das ist kein Einzelfall.
Die blaue Landkarte der USA zeigt 20 Fadenkreuze – wie sie in Zielfernrohren von Schusswaffen dem Schützen das exakte Treffen erleichtern. Auch Sarah Palin hat mit dieser Karte auf ihrer Homepage Opfer ins Visier genommen: die Wahlkreise von 20 demokratischen Politikern, denen die extrem rechte Führerin der ultrakonservativen Tea-Party-Bewegung ihr Ja zur Gesundheitsreform vorwirft. Darunter stehen ihre Namen. Palins Slogan: Zieht euch nicht zurück, ladet nach („Do not retreat, instead reload“). Ein 22-Jähriger hat in Tuscon diese Aufforderung wörtlich gekommen und auf eines der von Palin namentlich benannten Ziele geschossen: Gabrielle Giffords. Ein krasser Fall, aber nicht der erste: das Internet als neuer Pranger.
Den Pranger gibt es seit 800 Jahren. Damals begann man, Verurteilte an Schandpfähle zu fesseln und sie den Schmähungen, Bespuckungen und auch Bewerfungen der Passanten auszusetzen. Die Strafe bestand vor allem in der öffentlichen Schande, welche der Verurteilte zu erdulden hatte und die ein „normales“ Weiterleben in der Gemeinschaft unmöglich machte oder sehr erschwerte. Heute geht das ohne Richter, ohne Urteil und tatsächlichen Pfahl. Ein paar Mausklicks, und schon stehen ungeliebte Personen am Pranger des Internets. Sichtbar nicht nur für ein paar Passanten, sondern – theoretisch – für die ganze Erde.
Hetzschriften, Beschimpfungen, Verleumdungen, Verdächtigungen sind die modernen Folterinstrumente, die in Foren, auf Homepages oder in Blogs angewendet werden. Und die Zahl der Opfer nimmt zu. Ein paar Beispiele:
YouTube-Video: Frau wirft Hundewelpen ins Wasser
Bei YouTube kursierte ein Video, auf dem eine junge Frau sechs Hundewelpen ins Wasser wirft. Eine Person aus dem Umfeld von Katja P., einer 19-Jährigen aus Aying, veröffentlicht 2010 deren Kontaktdaten in einem Forum, das zum Mord an der Tierquälerin aufruft. Ein schlechter Scherz mit schlimmen Folgen. Katja P. bekommt Schmähanrufe und E-Mails mit konkreten Morddrohungen. Sie flieht ins Ausland, steht unter Polizeischutz – obwohl sie erwiesenermaßen unschuldig ist.
Sogar in den Tod getrieben wurde die 13-jährige Megan Meier. Eine ehemalige Freundin hatte das Mädchen an den Online-Pranger gestellt: Sie gab sich bei MySpace als junger Mann aus – und verdrehte Megan den Kopf. Schnell verliebte sich die junge Frau in diesen „Josh“ – vor den Augen der Öffentlichkeit. Doch dann schlug die Täterin zu – vor der gesamten MySpace-Gemeinde: Die Beleidigungen, Demütigungen und Anschuldigungen ihres angeblich geliebten „Josh“ trieben die 13-Jährige schließlich in den Tod. Sie erhängte sich.
Inzwischen eingestellt ist die Internet-Plattform rottenneighbour.com. Auf ihr wurden Nachbarschaftsstreits öffentlich bis zum Exzess ausgetragen – auch in Deutschland.
Doch die unendlichen Möglichkeiten des Internet-Prangers werden auch immer häufiger offiziell genutzt:
Die nordböhmische Stadt Chomutov wehrte sich spektakulär gegen Belästigungen durch den von vielen Deutschen frequentierten Straßenstrich: Die Polizei filmte die Kunden der Prostituierte und stellte die Bilder ins Netz – der Verkehr auf dem Strich ging um 80 Prozent zurück.
Einen virtuellen Pranger machen Kritiker auch in der RTL2-Sendung „Tatort Internet“ von Stephanie zu Guttenberg aus. In ihm werden mutmaßliche Sexualstraftäter vorgeführt, die noch nicht polizeibekannt sind.
Online-Pranger gegen freigelassene Sexualstraftäter sind in den USA gang und gäbe – jetzt denken auch CDU-Politiker über ein solches Verzeichnis nach. „Family watchdog“ heißt die Plattform. Der „Wachhund für Familien“ listet Wohnadressen und Arbeitsplätze von Sexualverbrechern auf. Nach Eingabe der eigenen Adresse erscheinen auf einer Karten die „Standorte“ möglicher gefährlicher Personen. Hardliner in der Union, zum Beispiel Norbert Geis und Joachim Herrmann, versprechen sich einen besseren Schutz der Bevölkerung.
Einen ganz anderen, in den Tagen des Dioxin-Skandals sicher sehr populären Internet-Pranger plant Bundesverbraucherschutzministerin Ilse Aigner (CSU). Im Frühjahr soll eine Internetseite online gehen, auf der Verbraucher von Beispielen falscher oder täuschender Kennzeichnung berichten können. Doch im Gegensatz zu anderen Prangern sollen sich Aigners Delinquenten wehren können: Die Firmen können am gleichen Ort Stellungnahmen abgeben.
Michael Heinrich