Die Banalität des Berühmten

Dieter Bohlen kauft Deo, Steffi Graf probiert Gürtel an und Lothar Matthäus schaut finster: Im Internet tauschen sich Normalos über ihre privaten Promi-Sichtungen aus
von  Abendzeitung
Inszenierte Privatheit: Dieter Bohlen mit seiner Ex Estefania. Nutzer von Portalen wie Promisichtung.de berichten von der realen Welt dahinter.
Inszenierte Privatheit: Dieter Bohlen mit seiner Ex Estefania. Nutzer von Portalen wie Promisichtung.de berichten von der realen Welt dahinter. © dpa

Dieter Bohlen kauft Deo, Steffi Graf probiert Gürtel an und Lothar Matthäus schaut finster: Im Internet tauschen sich Normalos über ihre privaten Promi-Sichtungen aus

Normalerweise soll die AZ in Sachen Promis ja nicht ganz unausgeschlafen sein. Doch in diesem Fall haben wir wohl ziemlich gepennt. Pardon. Et voilà - hier der Nachtrag: Am 27. März hat Reiner Calmund ein Flugzeug bestiegen.

Das haut Sie noch nicht um? Nur Geduld, es kommt noch besser: Er bestellte sich einen Tee mit Süßstoff und trug „judogürtelartige Hosenträger“. Was, Sie können noch? Bitte: Er saß auf Platz 11B der Economy Class und, jetzt kommt's, las im Sportteil!

Donnerwetter, werden Sie jetzt vielleicht denken, wie haben die knallharten Rechercheure meiner Zeitung das nur herausgekriegt? Zugegeben: Die weltexklusive News stammt von keinem unserer Reporter. Auch keine Nachrichtenagentur hat sie geliefert. Sondern: Herr Ulrik Hoffmann.

Wer das ist? Kein Geringerer als der „Chefsichter“ von Promisichtung.de, einem von diversen Portalen, in denen Normalos ihre Zufallsbegegnungen mit mehr (Cruise) oder weniger (Calmund) bekannten Menschen veröffentlichen.

Gänsehaut-Gefühl im Supermarkt

Und das in großem Stil. Tausende Beiträge gibt’s bereits auf den einschlägigen Seiten. Täglich kommt mindestens einer hinzu – und wird von der VIP-hungrigen Gemeinde verschlungen. Mögen die vorgesetzten Häppchen auch noch so einfach sein.

Kostprobe gefällig? Dieter Bohlen deckt sich in einem Tankstellen-Shop mit Deorollern ein, Ralf Bauer trinkt an einer Autobahn-Raststätte „Espresso Nr. 2“, Steffi Graf probiert Gürtel an und Lothar Matthäus kauft sich an einem Starnberger Kiosk „finster“ schauend den „Kicker“. Es ist – sehr frei nach Hannah Arendt – die Banalität des Berühmten, die fasziniert.

„Kennen Sie das Gefühl, Eva Herman im Spar-Markt getroffen zu haben und niemand will es wissen? Das unvergleichliche Gänsehaut-Gefühl, wenn einem Witta Pohl im Zugabteil gegenübersitzt?“ Letzte Fragen, gestellt im Editorial von promisichtung.de, die die Mehrheit der Menschheit wohl mit einem fassungslosem „Nein!“ beantworten würde. Für den Rest verspricht Christoph Schomberg, Gründer von promisichtung.de, ironisch Erlösung: „Auf dieser Webseite finden Sie Menschen, die Sie verstehen.“

Dabei soll laut Schomberg der Spaß im Vordergrund stehen. „Wir wühlen in keinster Weise in Mülleimern und legen uns auch nicht auf die Lauer“, versichert er der AZ. Es gehe um „absolut zufällige“ Sichtungen. Außerem müsse der Promi in „freier Wildbahn“ angetroffen werden. Uli Hoeneß beim Bayern-Spiel gilt also nicht, Foto-Beweise werden ebenfalls nicht verlangt. „Ehrlichkeit zählt. Fakes sind doof“, meint Schomberg.

Das eigene Idol in freier Wildbahn erleben

Ein Phänomen der „Star-Nutzung“ sei das, sagt Katrin Keller, Kommunikationswissenschaftlerin aus Münster. Je mehr die „inszenierte Privatheit“ zunehme – als Beispiel nennt sie die in People-Magazinen florierenden Homestories – desto größer sei der Wunsch, die „privat-private“ Rolle des Prominenten zu erleben. „Den engagierten Usern in den Portalen geht es auch darum, die vermeintliche Allmacht der Medien spielerisch zu untergraben“, sagt die Expertin, die das Buch „Der Star und seine Nutzer" (transcript Verlag) veröffentlicht hat.

Sogar Medien-Macher selbst geraten gelegentlich ins Visier der Promi-Sichter. Zum Beispiel Giovanni di Lorenzo, „Zeit“-Chefredakteur und „Tagesspiegel“-Herausgeber, den ein gewisser Jochen Topp in seinem Protokoll regelrecht reportagehaft beschreibt: „Herr Lorenzo trägt einen Drei-Tage-Bart, sein Jackett hängt am Tisch, er scheint alles zu lesen, was ihm in die Finger kommt", notiert der VIP-Interessierte aus Lufthansa-Flug LH 034 von München nach Hamburg. Und weiter: „Nach der ,Bild am Sonntag'-Lektüre fragt er die Dame auf 18 F, ob er einen Blick in ihre zerknüllte, in den Sitz des Vordermenschen gestopfte Zeitung werfen darf."

Später habe sich der Journalisten noch mit Salzheringen und stillem Wasser „vergnügt". Topps Fazit: „Alles in allem eine klasse Begegnung, ein sehr angenehmer Zeitgenosse, auch wenn wir so gut wie nix gesprochen haben. Er macht, wie im TV, einen sehr sympathischen Eindruck."

Der Online-Austausch sei ein neuer Weg, „die Authentizität des Stars zu überprüfen“, sagt auch Wissenschaftlerin Keller. Und nennt ein weiteres Beispiel: „Verkonsumiert jemand, der Diät-Reklame macht, 30 Euro in einer Currywurstbude, glaube ich der Werbung nicht mehr und ändere möglicherweise meine Einstellung zum Star.“

Oft scheint es eher um die Einstellung zu sich selbst zu gehen. „In vielen der geschliffen und selbstironisch formulierten Artikel erfährt man mehr über den Schreiber als über den Prominenten“, meint Keller.

So lässt zum Beispiel „Sichter“ Hauke Rudolph die Öffentlichkeit nicht im Unklaren darüber, dass sein Peugeot 105 PS hat (und gegen Helmut Kohls Mercedes chancenlos war). Und dass Ulrik Hofmann am 6. Dezember mit seiner Frau Gesa telefonierte (während er auf Alfred Biolek traf), wissen wir jetzt auch.

Guido grinst immer

Am häufigsten aktenkundig ist mit Abstand Dieter Bohlen, gefolgt von seiner Ex Naddel, Veronica Ferres und Günter Netzer. Harald Schmidt dagegen ward fast nie gesehen – so bleibt das private Mysterium des bekennenden Spießers vorerst gewahrt.

Anders als bei FDP-Chef Guido Westerwelle, in dessen Fall private und politische Rolle offenbar in erschütternder Weise der Vereinigung zustreben. Ein Benutzer berichtet: „Er kam mir im August an einer Ampel selbst fahrend entgegen und grinste so, wie man ihn aus dem Fernsehen kennt – obwohl er alleine im Auto war.“

Timo Lokoschat

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