"Deutschland ist ein rücksichtsloses Land"

Gewaltausbrüche, Randale, Attacken auf wehrlose Passanten und Polizisten: Ein Sozialpsychologe erklärt die Ursachen der wachsenden Verrohung.
Der Professor Dr. Dieter Frey für Psychologie ist am Lehrstuhl für Sozialpsychologie der LMU tätig. Er hat mit der AZ gesprochen.
AZ: Herr Frey, Polizisten werden angegriffen, Obdachlose angezündet, ganze Viertel in Hamburg verwüstet – täuscht der Eindruck, oder fallen immer mehr Hemmschwellen?
DIETER FREY: Die Gewaltintensität nimmt in vielen Dimensionen unserer Gesellschaft zu. Das betrifft nicht nur Angriffe auf Polizisten und Obdachlose, sondern auch Situationen im Verkehr, in Firmen und teilweise sogar in Familien.
Sie sehen eine gewisse Verrohung also schon im Alltäglichen?
Deutschland kann in vielerlei Hinsicht als rücksichtslos gesehen werden. Nehmen Sie den Straßenverkehr: Da würde man nicht sagen, dass die Leute rücksichtsvoll miteinander umgehen. Genauso wird sehr oft gemobbt, wenn die Leute sich nicht so verhalten, wie es die entsprechenden Normen vorschreiben.
Immer häufiger eskalieren harmlose Situationen und schlagen in Gewalt um, wie zuletzt etwa in Schorndorf. Wo sehen Sie die Ursachen?
Wie immer haben komplexe Phänomene mehrere Ursachen. Täglich sind im Fernsehen und in den Medien Tausende von Gewalttaten mit Mord und Totschlag zu sehen. Fernsehen gab es zwar auch früher schon, aber die Gewalt war früher nicht in dem Ausmaß zu sehen. Dazu kommen soziale Medien und ähnliches. Zwar orientieren sich nicht alle Menschen daran, aber etwa zehn Prozent, die ohnehin aufgrund familiärer Bedingungen und des sozialen Umfelds anfällig sind, bekommen hier Rollenvorbilder präsentiert.
Welche Gründe gibt es noch?
Es gibt ganz viele Menschen, die sich als Verlierer fühlen. Sie stehen lose an der Peripherie der Gesellschaft, haben keine Zukunftsperspektive und sind deshalb für solche antisozialen Verhaltensweisen anfällig. Aber nicht nur sie.
Wer noch?
Auch Gruppen aus der Mittelschicht, die einfach Spaß an der Gewalt haben. Überspitzt gesagt: Wohlstandskinder, die den Alltag langweilig und nicht herausfordernd, Randale dagegen cool und faszinierend finden, weil es willkommene Abwechslung vom tristen Einerlei ist. Es ist wichtig, zu erkennen, dass nicht nur Menschen gewalttätig werden, die sich als Verlierer definieren, sondern durchaus auch solche, die aus Milieus aus der Mitte der Gesellschaft kommen.
Wie lassen sie sich psychologisch einordnen?
Es sind eher Menschen mit geringer Kontrolle. Sie können in gewissen Situationen ihre Emotionen und ihre Verhaltensweisen nicht kontrollieren. Wenn dann auch noch Drogen, Alkohol oder andere Menschen dazukommen, die sich gegenseitig ermuntern und in der Gewalt inspirieren, dann fallen sämtliche Kontrollinstanzen weg. So entsteht eine Eskalation der Gewalt.
Sie sprechen die Gruppendynamik an. Was macht sie mit Gewaltbereiten?
Man ist nicht individuell identifizierbar und man steckt sich mit seinen negativen Emotionen an. Es entwickeln sich fast so etwas wie Freude und Spaß an der Gewalt. Oft sind es auch die vielen Mitläufer oder aber Unterstützer außerhalb der Gruppe, die der Mehrheit die Illusion geben: Was wir machen, ist richtig.
Welche Rolle spielt das Netz, wo Hass und Hetze fast filterlos geäußert werden können?
Das Internet spielt eine ganz zentrale Rolle, weil man überwiegend solche Artikel liest, die die eigene Emotion und Kognition unterstützen. Man rechtfertigt so das eigene Denken und Verhalten. Man ist sozusagen abgeschottet von konträren Meinungen und wird in seinem Hass nur noch bestärkt.
Was kann gegen die Verrohung getan werden?
Die Ursachen sind multipel und folglich auch die Lösungen. Natürlich müssen in allen gesellschaftlichen Institutionen, wie etwa Schulen und Universitäten, Werte wie Gewaltfreiheit und Toleranz sowie die vollkommene Intoleranz von Gewalt proklamiert werden. Aber genauso geht es auch um mehr Zivilcourage, dass möglichst viele Bürger einschreiten – und das schon bei Kleinigkeiten. Oft helfen auch Videokameras und die Präsenz von Polizei, weil das einerseits den Menschen Sicherheit gibt, und andererseits die Schwelle für Gewalttaten erhöht.
Kürzlich wurde der U-Bahn-Treter von Berlin zu zwei Jahren und elf Monaten Haft verurteilt. Kann eine solch geringe Strafe überhaupt als Abschreckung dienen?
Bei solchen Dingen sollte der Gesetzgeber absolut schärfer bestrafen. Es geht ja nicht nur um die Tat an sich – die Opfer haben oft ein Leben lang traumatische Schäden. Wenn man diese berücksichtigt, sind solche Urteile viel zu wenig abschreckend. Ich bin zwar nicht der Meinung, dass nur die Urteile das Problem beheben, aber härtere Bestrafung wäre zumindest ein Teil der Lösung.
Krawalle in Schorndorf: "In keinster Form zu akzeptieren"
Nach den Krawallen beim Volksfest in Schorndorf hat Oberbürgermeister Matthias Klopfer (SPD) einen Schulterschluss von Politik und Polizei gefordert. "Die Gewalt gegen Polizisten ist auf einem Fünfjahreshoch. Das ist natürlich in keinster Form zu akzeptieren."
Am vorletzten Abend der Veranstaltung blieb es in der Nacht zu Dienstag ruhig.
Lesen Sie auch: Verdächtiger flüchtig - Mann mit Pistole auf Schulhof: Amokalarm in Esslingen