Der tut nix, der will nur spielen
Säbelzahntiger, Seuchen und komplexe Währungssysteme: „World of Warcraft" - ein Online-Game wird zur Parallelgesellschaft. Über 300000 Fans kaufen sich am ersten Tag die Erweiterung „Wrath of the Lich King"
Es passierte, natürlich, gegen Mitternacht: als Menschen getarnte Zombies, Orks, Trolle, Druiden, Magier, Hexenmeister und Todesritter schlichen vor deutschen Elektronikmärkten umher. Was sie wollten? Nicht: die saftigen Gehirne kompetenter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verspeisen. Sondern: nur spielen!
Und zwar „World Of Warcraft“, eines der erfolgreichsten Computergames aller Zeiten, das ab 0 Uhr mit einer „Erweiterung“ auf den Markt kam. Die beglückt die Menschheit laut Herstellerwerbung mit einem „riesigen, neuen Kontinent“, der „brandneuen Heldenklasse des Todesritters“, „einzigartigen Dungeons“ sowie „zerstörbaren Gebäuden“. Wow. So kürzen Insider übrigens auch das Spiel ab.
Ein Rollenspiel. Konkret: Normale und relativ normale Menschen verwandeln sich in die eingangs erwähnten Zeitgenossen, reiten auf Säbelzahntigern durch die virtuelle Landschaft, schleudern gleißende Blitze auf ihre Feinde, prahlen mit langen Schwertern und besitzen wohl mehr Waffen als Russland, China, Israel und Pakistan zusammen.
Gemeinsame Orkjagd zwischen Gilching und Massachusetts
Weiß man um diesen Hintergrund, ging es beim Verkaufsstart dann doch gesittet zu, gesitteter als zum Beispiel bei der Schlacht um die neue H&M-Kollektion (AZ berichtete). „Es gab keine Zwischenfälle“, beteuert eine Media-Markt-Sprecherin.
Allein in den ersten 24 Stunden wurden deutschlandweit 315000 Spiele für jeweils 35 Euro abgesetzt. Kein Wunder, kann die Fangemeinde doch mit jener von Tokio Hotel oder DJ Ötzi konkurrieren. Bis zu eine Million Menschen tauschen hierzulande nach Feierabend ihre bürgerliche Existenz gegen die eines Kriegers. Weltweit soll es elf Millionen Gefährten geben.
Das Geheimnis: „WoW“ ist ein „Massively Multiplayer Online Role-Playing Game“, ein Spiel, in dem sich via Internet über den ganzen Globus Allianzen bilden und Fehden entspinnen können – zwischen Privatpersonen. Der Polizist aus Gilching kann mit der Krankenschwester aus Massachusetts nachts auf Orkjagd gehen. Muss er sogar. Einzelkämpfer gehen unter.
Wer's glaubt, spielt ewig
Das, was die medial gehätschelte Community „Second Life“ krampfhaft versucht – eine Art virtuelle Realität zu generieren – gelingt „WoW“ seit 2004 spielerisch. Längst hat sich das Game zur Gesellschaft entwickelt – mit komplexem Wirtschaftssystem, das sich trotz digitaler Seuchen und Kriege durch eine gewisse Stabilität auszeichnet, gemessen an der Realität.
Die wiederum muss mit den Schattenseiten des Booms klarkommen: vor allem jungen Männern, die statt zu lernen lieber Drachen töten, sich in ihrem Zimmer verschanzen und ausschließlich mit Gnomen kommunzieren. Wer’s glaubt, spielt ewig. Bundesweit gibt es bereits mehrere Selbsthilfe-Gruppen wie rollenspielsucht.de.
In der Mehrheit sind die „WoW“- und andere Rollenspiel-Jünger, wie eine aktuelle Studie ergab, jedoch keineswegs wirklichkeitsfremde Soziopathen, die wegen eines gestohlenen virtuellen Schwerts zu echten Mördern werden, sondern sehr normal. Viele treffen sich zu Stammtischen, sogar Partnerschaften sind entstanden. Zum Beispiel, wenn der Druide merkt, dass der garstige Ork in Wirklichkeit ein nettes Mädel ist.
Timo Lokoschat
- Themen: