Der tiefe Fall des King of Pop
Hat er oder hat er nicht die beiden 13-jährigen Buben sexuell missbraucht? Zwei Mal wird Michael Jackson angeklagt – und zwei Mal freigesprochen. Doch immer bleiben Zweifel.
Die Inszenierung hätte nicht erniedrigender sein können: Die Arme mit Handschellen auf den Rücken gefesselt wird Michael Jackson am Morgen des 20. November 2003 ins Gefängnis von Santa Barbara gebracht. Sicherheitsleute bewachen den schmächtigen Mann. Er muss seinen Pass abgeben, seine Fingerabdrücke werden genommen. Ein Justizbeamter liest den Haftbefehl vor: Es geht um den Verdacht auf Kindesmissbrauch und sexuelle Belästigung in mehreren Fällen.
Nach einer Stunde ist der Spuk vorbei. Jackson hat drei Millionen Dollar Kaution hinterlegt und ist wieder frei. Die Handschellen-Fotos gehen da längst um die Welt – Bilder, auf die Bezirksstaatsanwalt Tom Sneddon seit zehn Jahren gewartet hat: Bilder des „King of Pop“ als mutmaßlicher Kinderschänder.
1993 trafen der Chef-Ermittler und der Superstar zum ersten Mal aufeinander, schon damals ging es um den Missbrauch eines Minderjährigen: Ein Zahnarzt aus Los Angeles hatte den Sänger angezeigt. Sein 13 Jahre alter Sohn Jordan, der zeitweise auf der Neverland Ranch gewohnt hatte, behauptete, der Star habe ihn wiederholt belästigt. Tom Sneddon glaubte dem Jungen – und blies zur Jacko-Jagd. Er ließ sein Wunderland auf den Kopf stellen und war wenig später der erste Staatsanwalt, der Michael Jackson nackt sah – während dessen Genitalien fotografiert wurden. Angeblich, wollte Sneddon anhand der Aufnahmen Angaben aus Jordans Aussagen überprüfen.
Zweifel, eine abgesagte Welt-Tournee und ein Hass-Lied
Sneddon erhob Anklage, doch zum Prozess kam es nie. Für rund 20 Millionen Dollar erkaufte sich der Star das Schweigen des Schülers. Sneddons wichtigster Zeuge stand nicht mehr zur Verfügung. Das Verfahren war geplatzt. Was blieb waren Zweifel, eine abgesagte Welttournee und ein Hass-Lied auf Tom Sneddon: Im Song D.S. auf dem „History“-Album nennt Jackson den Juristen einen „cold man“, der ihn zur Strecke bringen will. „Dead or alive“. Der Bezirksstaatsanwalt – konservativ, christlich und Vater von sechs Kindern – recherchierte ungerührt weiter. Er flog sogar nach Australien, um weitere Missbrauchs-Opfer oder Zeugen zu finden. Doch niemand wollte vor Gericht gegen Jackson aussagen.
2003 ist die juristische Situation eine andere. Seit 1999 erlaubt die kalifornische Strafprozessordnung Missbrauchs-Verfahren auch dann, wenn das Opfer sein Martyrium nicht selbst vor der Jury schildern will. Und es gibt eine BBC-Dokumentation, die bei Tom Sneddon sämtliche Alarmglocken schrillen lässt: „Living with Michael Jackson“ von Martin Bashir. Dort kuschelt sich der 13-jährige krebskranke Gavin an seinen „Freund Michael“. Dazu erklärt Jackson, er fände es völlig normal, Kinder in seinem Bett schlafen zu lassen. Er versorge sie mit warmer Milch und Keksen und spiele ihnen zum Einschlafen Musik vor. Dies sei „bezaubernd“ und „süß“, „etwas, das die ganze Welt machen sollte“. Es sei nichts Sexuelles daran.
Doch kurz nach der Ausstrahlung behauptet Gavin, der Musiker habe ihn zum Masturbieren aufgefordert. US-Medien berichten, sein Arzt habe sich deshalb an die Staatsanwaltschaft gewandt. Tom Sneddon fackelt nicht lange. Er klagt Jackson erneut an – unter anderem wegen vier Fällen von Kindesmissbrauch. 1600 Journalisten melden sich an, darunter 20 Fernsehstationen. Die Welt will sehen, wie Peter Pan seine Unschuld verliert.
Bei einer Verurteilung drohen Jackson 29 Jahre Haft. Am 16.Januar 2004 bekennt er sich nach der Anklageverlesung im Justizpalast von Santa Maria mit leiser Stimme für „nicht schuldig“. Wieder auf der Straße, klettert er auf seine Limousine, singt, tanzt, wirft den Fans Kusshände zu und macht das Victory-Zeichen. Eine Freak-Show.
Was wird aus seinen Kindern, wenn man ihn einsperrt?
Eineinhalb Jahre später wird er auch aus dem zweiten juristischen Kräftemessen mit Tom Sneddon als Sieger hervorgehen: Am 13. Juni 2005 spricht das Gericht ihn in allen Anklagepunkten frei. Doch wieder bleibt Skepsis, selbst bei den Jury-Mitgliedern. Er habe sich nur zu einem Freispruch durchgerungen, weil er Gavin „mit seiner Lügenvergangenheit“ nicht traue, sagt ein Mitglied des Gremiums.
Jacksons Fans hingegen feiern. „Erinnere dich an diesen Tag“, heißt es im Internet. Einige sorgen sich schon damals um ihr Idol. „Der arme Kerl konnte weder Nahrung zu sich nehmen noch schlafen. Er hat sich immer gefragt, was aus seinen Kindern wird, wenn man ihn einsperrt", erinnert sich Jacksons Anwalt Thomas Mesereau. In seinem einzigen Interview nach dem Prozess sagt Michael Jackson, das Verfahren sei das Schlimmste, „was mir in meinem ganzen Leben widerfahren ist". Der Pop-König ist gestürzt. Trotz Freispruchs. Und heimatlos. „Er hat Neverland und Santa Barbara County geliebt“, sagt Anwalt Mesereau. „Dennoch ist er geflohen – in den Mittleren Osten, nach England, Irland und Las Vegas. Halt hat er nirgendwo gefunden."
Natalie Kettinger
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