Der Terror aus dem Netz
In Deutschland ist fast jeder vierte Jugendliche von Cybermobbing betroffen: Der Online-Rufmord hat eine viel brutalere Dimension als harmlose Schulhof-Hänseleien – mit fatalen Folgen.
München - Eine Geburtstagsfeier war der Auslöser. Alexandra hat einige Freundinnen eingeladen, nur eine nicht. Mit der hatte sie sich kurz zuvor zerstritten. Diese Freundin machte ihrem Ärger online Luft, beschimpfte Alexandra via Facebook als „fette Kuh“, als „Prostituierte“ und als „Schlampe, die es mit jedem treiben würde“.
Die meisten Mitschüler machten mit. „Am Ende war fast die ganze Klasse gegen mich“, sagt Alexandra, die bis heute nicht versteht, wie das alles passieren konnte. Als sie es nicht mehr aushielt, wechselte sie die Schule. Da war sie 13 Jahre alt.
Cybermobbing ist ein Problem, und dieses Problem wird größer. Das zeigen die wenigen Studien, die es bisher zu dem Thema gibt. Bei einer Online-Umfrage im Jahr 2007 gab jeder fünfte der Schüler und Jugendlichen an, schon einmal im Internet gemobbt worden zu sein. Ein Jahr später war bereits fast schon jeder vierte der 12- bis 19-Jährigen betroffen. Die Tendenz ist eindeutig. Und auch die neue Studie, die die Techniker Krankenkasse heute vorstellt, wird voraussichtlich das bestätigen, vor dem viele Experten warnen: Der Rufmord im Internet nimmt zu.
„Wir erleben, dass sich, vor allem in der jungen Generation, soziales Leben ins Netz verlagert“, sagt Georg Ehrmann, Chef der Deutschen Kinderhilfe. „Was früher an Mobbing vor allem auf dem Schulhof passiert ist, wird heute im Internet weitergeführt.“
„Im Gegensatz zum Schulhof ist Cybermobbing in gewisser Weise anonymer“, sagt die Münchner Jugendpsychologin Mechthild Schäfer. „Die Sprache ist drastischer.“ (siehe Interview)
Die Betroffenen wissen oft nicht, wie sie mit den Angriffen umgehen sollen. „Sie haben das Gefühl, die ganze Welt sei gegen sie“, sagt Ehrmann. „Das ist ein unglaublicher Druck, der auf ihnen lastet, denn sie wissen ja, dass nicht nur sie, sondern viele andere die Beleidigungen im Internet über sie lesen können.“
Einige halten diesem Druck nicht stand. 2009 sprang die 15-jährige Holly Grogan von einer Brücke in den Tod. Sie hatte die Hänseleien auf ihrer Facebook-Seite nicht länger ertragen. 2008 erhängte sich der erst 13-jährige Sam Leeson, nachdem er mehrere Monate lang im Internet gemobbt worden war. Im gleichen Jahr versuchte ein 16-Jähriger sich umzubringen, nachdem er erkannt hatte, dass ein homosexuelles Cyber-Verhältnis, auf das er sich emotional eingelassen hatte, von seinem Gegenüber inszeniert worden war – und der Details daraus weitergab. Der Fall endete mit der ersten Verurteilung wegen Cybermobbings in Großbritannien.
In den USA war es der Fall der Megan Meier, die im Oktober 2006 von einer erwachsenen Frau via Internet in den Selbstmord gemobbt worden war, der das Problem in die Öffentlichkeit brachte, und in mehreren Bundesstaaten eine Verschärfung der Gesetze zur Folge hatte.
In Deutschland hat Anfang des Jahres aber vor allem ein Fall für Aufregung gesorgt. Joel, in Kassel geboren, 13 Jahre und hochbegabt, wirft sich im österreichischen Velden vor den Zug. Kurz zuvor hatte er an der Pinnwand seiner Facebook-Seite einen Link entdeckt, der zur einer Schwulen-Porno-Szene führte. „Du bist schwuler als die Polizei erlaubt“, hatte ihm ein „Freund“ geschrieben. Wenige Stunden später war Joel tot.
Es sind, das haben die bisherigen Studien ergeben, vor allem junge Menschen von Cybermobbing betroffen, und vor allem Mädchen. Mädchen werden, ergab eine Pilotstudie der Universität Hohenheim, bis zu sechs mal häufiger im Internet gemobbt als Jungen. In den allermeisten Fällen stecken, wie bei Alexandra, Klassenkameraden hinter den Cyber-Attacken.
Dabei spielt es so gut wie keine Rolle, auf welche Schule die Betroffenen gehen. Ob Hauptschule, Gymnasium oder Privatschule – gemobbt wird überall. Doch auch hier gibt es eine klare Tendenz. 2008 kam eine Studie der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft über Cybermobbing zu dem Ergebnis, das vor allem an Gymnasien am meisten via Internet gehänselt wird. Die Erklärung der Psychologen: Diese Kinder kennen die neuen Medien besser.
Es gibt, soweit bekannt ist, in Deutschland noch keine Todesfall infolge von Cybermobbing. Doch das, was rund um die Internet-Seite Isharegossip (zu deutsch: Ich teile Gerüchte) passiert, zeigt, wie schnell verbale Gewalt im Internet die Realität erreicht.
Vor drei Monaten hat ein 17-Jähriger aus Berlin [/INI_3]versucht, seine Freundin gegen Läster-Attacken auf dieser Seite zu verteidigen. 20 Jugendliche schlugen ihn bewusstlos, und Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU) versprach Konsequenzen. Tatsächlich landete die Seite wenig später auf dem Index der Bundesprüfstelle für jugendgefährdete Medien. Das bringt wenig, denn die Seite ist nach wie vor erreichbar. Gestern wurde dort ein Jugendlicher als „Schwanzlutscher“ diffamiert. Und das ist noch ein harmloses Beispiel.
„Immerhin hat der Fall aus Berlin das Bewusstsein der Öffentlichkeit und der Politik zum Thema Cybermobbing geschärft“, sagt Ehrmann. „Doch das Problem ist doch: Kinder und Jugendliche lernen bis heute nicht, wie sie mit dem Medium Internet richtig umgehen sollen. Genau deshalb kommt es solchen Auswüchsen.“ Sein Vorschlag: Medienkompetenz als Unterrichtsfach in den Lehrplan aufzunehmen. „Darin sehe ich die einzige Chance, dem Problem Herr zu werden.“
- Themen:
- CDU
- Kristina Schröder
- Polizei