Der qualvolle Tod von „Baby P“

Das Versagen ihrer Behörden schockiert die Briten – nicht nur im Fall des Inzestvaters
LONDON So eine turbulente Sitzung hat das Londoner Unterhaus lange nicht gesehen: „Eine Schande, eine Schande“, brüllte Oppositionsführer David Cameron unentwegt – unter dem Johlen, Buhen und Pfeifen der Abgeordneten.
Fassungslos steht Großbritannien vor dem Fall des Vergewaltigers, der drei Jahrzehnte lang seine drei Töchter missbrauchte, so dass sie 19 Mal schwanger wurden und neun Kinder zur Welt brachten (AZ berichtete). Vermutlich wäre die Geschichte des „British Fritzl“ bald wieder vergessen – wäre da nicht ein weiterer Fall von Grausamkeit und systematischem Wegsehen, der die Briten schockiert.
Das Opfer wird nur „Baby P“ genannt. Ein 17 Monate alter Bub, dessen Namen die Behörden verschweigen. Jetzt wurden seine 27-jährige Mutter und deren 31-jähriger Lebensgefährte zu langen Haftstrafen verurteilt. Schon im Jahr 2007 hatten sie den Buben zu Tode misshandelt – aber erst jetzt kamen seine Höllenqualen ans Licht.
Mit sieben Monaten kam „Baby P“ zum ersten Mal ins Krankenhaus – übersät mit blauen Flecken. Insgesamt wurde der Bub mehr als 50 Mal gefoltert. Am 3. August fanden Sanitäter „Baby P“ tot in seinem Bett. Sein Gesicht war mit der Faust eingeschlagen worden, ein Zähnchen hatte er verschluckt. Lippen und Nase waren aufgeplatzt, Fingernägel fehlten.
48 Stunden vor seinem Tod wurde der Bub zum letzten Mal ins Krankenhaus eingeliefert – er schrie so sehr, dass die Ärztin ihre Untersuchung genervt abbrach und im Bericht notierte: „Kind ist unleidlich.“ Die Obduktion ergab später, dass das Kind da schon ein gebrochenes Rückgrat hatte.
Das Verhalten der Ärztin steht beispielhaft für das Versagen sämtlicher Kontrollmechanismen: Sechzig Mal erhielt die alkoholabhängige Mutter in ihrer Londoner Sozialwohnung Besuch von den Ämtern. In Protokollen ist nachzulesen, die Wohnung stinke nach Urin, sei übersät mit Pornoheften und voller Flöhe. Der Freund der arbeitslosen Mutter war polizeibekannt als „Mensch mit sadistischer Neigung, der lebende Frösche häutet und Nazi-Andenken sammelt“.
Fast könnte man den Eindruck gewinnen, die Sozialarbeiter wollten bewusst nichts tun. Beim letzten Besuch hatte die Mutter ihr Baby mit Schokolade beschmiert – um die Prellungen zu überdecken. Die entzündete Haut am inzwischen kahlen Kopf des Buben sollte eine dicke Schicht Salbe verdecken. Die Sozialarbeiterin notierte: „Keine Auffälligkeiten.“ Die zuständige Amtschefin ist sich keiner Schuld bewusst: „Das Kind wurde von seiner Familie umgebracht, nicht von uns.“
Nach einer aktuellen Statistik sterben alleine in England pro Woche vier Kinder an Vernachlässigung. Tory-Chef David Cameron fällte ein hartes Urteil: „Großbritannien ist eine zerbrochene Gesellschaft.“ Annette Zoch