Der Punk-Politiker

Reykjavík, Hauptstadt des krisengeplagten Island, wird seit 100 Tagen von einem Comedian regiert. Jon Gnárr macht sich über den Politikbetrieb lustig – und wurde vielleicht gerade deshalb gewählt
von  Abendzeitung

Reykjavík, Hauptstadt des krisengeplagten Island, wird seit 100 Tagen von einem Comedian regiert. Jon Gnárr macht sich über den Politikbetrieb lustig – und wurde vielleicht gerade deshalb gewählt

REYKJAVIK Die Politikverdrossenheit ist groß wie nie. Die Parteien sind in der Krise. In solchen Zeiten gehen die Menschen entweder auf die Straße (Stuttgart 21). Sie jubeln Populisten zu (Thilo Sarrazin). Oder sie suchen sich andere Formen des Protests. Wie in Island. Dem kleinen Inselstaat im Nordatlantik, der dank größenwahnsinniger Banker und unfähiger Politiker fast Pleite gegangen wäre.

Seit rund 100 Tagen wird die Hauptstadt Reyjkjavík von Jon Gnárr regiert. Er ist Schulabbrecher, Ex-Taxifahrer, Ex-Punkrocker (er spielte Bass in der Band „Rinnende Nasen“). Er arbeitete bei Volvo am Fließband und in einem Heim für geistig Behinderte. Und er ist ein bekannter Stand-Up-Comedian – er ist Islands Horst Schlämmer. Seine Kandidatur sollte ein Spaß sein. Eine Karikatur des etablierten Politikbetriebs, dem sowieso niemand mehr glaubt. Damit hat der 43-Jährige den Nerv getroffen.

Die Bürger von Reyjkjavík wählten ihn und seine „Beste Partei“. Trotz oder gerade wegen der absurden Spaß-Forderungen: „Disneyland nach Reykjkavík“ hießen seine Slogans, oder „Für ein drogenfreies Parlament bis 2020“. „Und natürlich habe ich meinen Wählern versprochen, jedes Wahlversprechen sofort zu brechen“, erzählt Jon Gnárr der AZ und kann ein Grinsen nur schwer unterdrücken.

Er sieht aus wie ein normaler Bürgermeister. Wären da nicht die bunten Manschettenknöpfe. Die hochstehenden Haare. „Bei uns haben die Menschen die Nase voll von Wahlversprechen“, so Gnárr. „Sie vertrauen mir, weil ich mich darüber lustig mache.“

Gnárrs Politik ist eine seltsame Mischung aus ernsthaften Maßnahmen und Spinnereien. Er will das öffentliche Busnetz Reykjavíks komplett auf Elektro-Autos umstellen und kämpft für die Fertigstellung des Konzerthauses, das nach der Krise halbfertig am Hafen vor sich hin moderte. Er musste die städtischen Energiepreise erhöhen. Sein Rathaus-Team, bisher an „normale Politiker“ gewöhnt, steht hinter ihm: „Er arbeitet sehr hart, ist immer bis spät abends da, und fast jedes Wochenende“, erzählt Mitarbeiterin Hulda Gunnarsdóttir über den vierfachen Familienvater.

Gleichzeitig bleibt Gnárr seinem Job als Komiker treu und führte als Rezept gegen die allgemeine Depression den „Guten-Tag-Tag“ ein: Alle Bürger müssen sich einen „guten Tag“ wünschen. Gnárr grinst: „Als nächstes planen wir einen Guten-Abend-Abend.“

Jon Gnárr ist eine permanente Provokation. Bei der „Gay Pride“-Parade fuhr er als Drag-Queen im Blümchenkleid auf dem ersten Wagen mit. Andere Politiker reagieren auf Gnárr eher säuerlich. „Ich neige dazu, meinen Job ernst zu nehmen“, sagt Wirtschaftsminister Arni Pall Arnasson zur AZ. „Aber ich respektiere die Wahl der Menschen.“ Arnasson nachdenklich: „Er ist irgendwie ja auch zu beneiden: Er muss schwierige Entscheidungen treffen, und sorgt sich dabei nie um seine Wiederwahl.“

Irgendwann will Gnárr wieder auf der Comedy-Bühne stehen. Doch jetzt ist er erstmal vier Jahre Bürgermeister. Seinen Stil nennt er „Neo-Anarchismus“. „Man kann Politik auf die klassisch-paranoide Art machen“, sagt er. „Man vertraut keinem, tut alles für seine Macht, schläft schlecht. Oder man sucht sich gute Mitarbeiter, und glaubt daran, dass sie ihr Bestes geben. So mache ich das.“

Gerade verhandelt Island über die EU-Mitgliedschaft. Irgendwann könnte Gnárr also Bundeskanzlerin Angela Merkel und Nicolas Sarkozy in der Hauptstadt empfangen. Seine Idee fürs Abendprogramm: „Eine anständige Kneipentour!“

Annette Zoch

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