Der koschere Knigge: „Vielleicht reden wir mal über normale Dinge“
Der Berliner Autor Michael Wuliger hat das Buch „Der koschere Knigge“ geschrieben und gibt darin Tipps für einen unverkrampften „deutsch-jüdischen Dialog“. Fernab von Sonntagsreden, stattdessen ironisch und lebensnah. Was er im AZ-Interview über Fettnäpfchen, Nahostkonflikt und Schweinekopfsülze sagt
AZ: Schalom, Herr Wuliger!
Tach auch! Ich bitte Sie, wir sind doch nicht in Israel.
Hoppla, gleich das erste von vielen „Fettnäpfchen“, über die Sie hinweghelfen wollen: Dabei geben sich deutsche Nichtjuden doch schon solche Mühe, nicht hineinzutreten…
Das ist ja das Schlimme!
Damit’s etwas entspannter zugeht, geben Sie „Tipps fürs erste Kennenlernen“ – wie sollte man denn nicht ins Gespräch einsteigen?
„Sie sehen gar nicht so aus“ ist kein guter Anfang, Holocaust und Nahostkonflikt auch nicht. Wir sind ja ganz gewöhnliche Menschen, die Auto fahren, Musik hören, sich für die Bundesliga interessieren, Skat kloppen und was weiß ich nicht alles. Judentum ist keine abendfüllende Beschäftigung. Vielleicht reden wir einfach mal über normale Dinge – von der Abwrackprämie bis zur Erderwärmung. Das Judentum kann warten bis zum dritten Bier.
„Ein Kind jüdischer Eltern? Völlig schwachsinnige Aussage!"
In Ihrem Buch wird dem fiktiven Herrn Blumberg auf Partys sofort ungefragt mitgeteilt, dass man „Schindlers Liste“ auf DVD besitzt.
Oder dass man erst neulich in dem Konzert von Giora Feidman war. Dabei hört Herr Blumberg eigentlich viel lieber Countrymusic oder die Wildecker Herzbuben. Wenn er das aber sagt, ist sein Gegenüber komplett von der Rolle.
Warum mögen viele Deutsche nicht „Jude“ sagen?
Das muss irgendwie damit zu tun haben, dass das Wort in der Nazizeit negativ belegt war. Nun haben zum Beispiel die Zigeuner gesagt, wir wollen Sinti und Roma genannt werden. Etwas Ähnliches haben die Juden aber nie gesagt, das Wort ist unverfänglich.
Die meisten wählen trotzdem andere Formulierungen.
Ja, sie sagen „jüdisch“ oder dass Herr Blumberg „ein Kind jüdischer Eltern“ sei. Eine völlig schwachsinnige Aussage. Sie sagen ja auch nicht über den bayerischen Ministerpräsidenten, dass er „ein Kind katholischer Eltern“ ist.
Was Bayernfans im Biergarten mit Israel zu tun haben
Werden Sie oft auf den Nahostkonflikt angesprochen?
Jo, das kommt gleich nach Auschwitz. Dabei gehe ich jede Wette ein, dass 80 Prozent der Juden in Deutschland mit Konflikten am Arbeitsplatz oder in der Beziehung viel intensiver befasst sind.
Warum ist das Thema so ein Minenfeld?
Es gibt diese seltsame Kommunikationssituation: Sie sitzen in der Kneipe, jemand findet heraus, dass Sie jüdisch sind und la... – gut, jetzt sage ich es auch – und labert Sie auf den Nahostkonflikt an. Meist in so einem vorwurfsvollen Ton: „Was macht ihr denn da nur? Und gerade wo ihr doch selber so viel gelitten habt?“
Und wie reagieren Sie?
Eine Möglichkeit: „Ach, ich will mich darüber nicht unterhalten“, dann kommt vermutlich die Nachfrage: „Aha, ist Ihnen wohl unangenehm?!“ Die zweite ist: Es tritt automatisch eine Art Solidarisierungseffekt mit Israel ein.
Wie funktioniert der?
Ein Beispiel aus dem nichtjüdischen Leben: Im Biergarten sitzen fünf Bayernfans und schimpfen auf den Verein. Dann kommt ein Löwenfan rein und muss nur sagen: „Na, also euer letztes Spiel war ja nicht so gut!“ Da stehen aber die Bayernfans auf wie ein Mann und verteidigen ihren Verein, obwohl sie gerade fünf Minuten vorher das Gegenteil gesagt haben. Genauso geht es, wenn Juden kritisch auf Israel angesprochen werden.
Und wenn Herr Blumberg zu Besuch in Israel ist?
Dann meldet sich der gleiche Solidaritätsreflex – nur zugunsten Deutschlands.
„Zwei Juden, drei Meinungen“
Was Sie auch nervt, ist zu viel Liebe – Philosemitismus.
Oooh ja! Das sind Leute, die lieben die Juden, im Plural. Das hat oft was Stalkermäßiges. Die treffen auf Herrn Blumberg, wollen mit ihm über Martin Buber reden, aber Blumberg liest lieber den „Kicker“. Dann ist die Enttäuschung groß. Man erwartet sich den Juden als Mischung aus Einstein, Daniel Barenboim und Giora Feidman. Nun ist aber der Jude ein ganz normaler Mensch, bohrt sich vielleicht in der Nase oder hat andere unangenehme Angewohnheiten. Und was ein echter Philosemit ist, der kommt damit nicht zurecht.
Wenn von Juden die Rede ist, dann oft mit vorgesetztem bestimmten Artikel: „die Juden“. Sind Sie wirklich so eine verschworene Gemeinschaft?
Im Gegenteil! Es gibt ja diesen alten Spruch: zwei Juden, drei Meinungen. Wobei mit arithmetischer Zunahme der beteiligten Juden die Zahl der Meinungen exponentiell wächst. Da es keinen jüdischen Papst gibt, hat auch in religiösen Fragen keiner das letzte Wort: Jeder macht, wie er lustig ist.
Wenn’s mit dem ersten Kennenlernen geklappt hat: Worauf muss man sich gefasst machen, wenn man bei Juden zum Essen eingeladen ist?
Dass alle Juden koscher essen würden, stimmt schon mal nicht, eher koscher light. Gut, Schweinekopfsülze kommt relativ selten auf den Tisch. Es gibt häufig den Fall, dass nichtjüdische Freunde sagen: „Oh, ich freu mich so auf die Einladung, endlich mal richtig jüdische Küche!“ Dann werden traditionelle Gerichte serviert, die auch für viele Juden gewöhnungsbedürftig sind.
Wie schmecken die?
Es gibt das interessante Phänomen, dass keine andere Religion in ihren heiligen Schriften so viel über das Essen schreibt: wie es zubereitet wird, was man essen darf und was nicht – aber ob es schmeckt, ist nie eine Frage!
„Traditionen, die man selbst nicht wirklich voll versteht“
Und wenn’s trotz Essen super läuft und ich als Christ eine Jüdin heiraten will?
Oh oh oh, ein ganz kompliziertes Thema! Jüdische Familien legen sehr häufig Wert darauf, dass ihr Kind jüdisch heiratet. Nicht aus Abgrenzung, eher weil es so schrecklich kompliziert ist, dem neuen Schwiegersohn Traditionen zu erklären, die man selbst nicht wirklich voll versteht. Aber wo die Liebe hinfällt. Und man kann sich ja auch so zusammentun.
In den USA weiß fast jeder, dass zum Beispiel Harrison Ford, Scarlett Johansson oder Sarah Jessica Parker jüdisch sind. Gibt es in Deutschland keine bekannten Juden außer den Verbandsvertretern?
Doch, zum Beispiel Hugo Egon Balder. Ich vermute allerdings, dass 90 Prozent seiner Zuschauer nicht wissen, dass er Jude ist. Und das ist auch gut so. Es ist ja auch scheißegal.
Wann ist das deutsch-jüdische Verhältnis normal?
Wenn wir eine Situation haben, in der man auf einen jüdischen Kotzbrocken trifft und denkt: „Mein Gott, ist das ein Kotzbrocken!“ Und nicht: „Mein Gott, ist das ein jüdischer Kotzbrocken!“ Bis dahin dauert’s noch ein Weilchen.
Interview: Timo Lokoschat
Der koschere Knigge, Fischer Taschenbuch Verlag, 8 Euro