Der Gipfel der Verkommenheit: "Autobahn in die Todeszone"

Diebstahl, Betrug, Prostitution und Erpressung: Ein neues Buch enthüllt die dreckigen Geschäfte am Mount Everest. In dieser Saison wird der höchste Berg der Welt sogar zum Politikum.
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Nils Antezana (69) kurz vor dem Gipfel und seinem Tod.
Malik Nils Antezana (69) kurz vor dem Gipfel und seinem Tod.

Diebstahl, Betrug, Prostitution und Erpressung: Ein neues Buch enthüllt die dreckigen Geschäfte am Mount Everest. In dieser Saison wird der höchste Berg der Welt sogar zum Politikum.

Es passt in die Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte. Der majestätische Mount Everest, mit 8850 Metern die höchste Erhebung der Erde, ist schon lange durch menschliche Korruption, falschen Ehrgeiz und Massentourismus entweiht und zum „höchsten Müllberg“ (Erstbesteiger Sir Edmund Hillary) degradiert, in dieser Saison wird er sogar zum Politikum: Da China bislang an der Idee festhält, die Olympische Fackel bis auf den Gipfel des Everest zu tragen, wurde für die kurze Saison im Mai keine Genehmigung an andere Expeditionen erteilt.

Um eine politische Auseinandersetzung in der Todeszone zu vermeiden, lässt auch die nepalesische Seite bis zum 10. Mai nur Besteigungen ins dritte Höhenlager (7500 Meter) zu. Eine Konfrontation protibetischer Gipfelstürmer mit dem offiziellen chinesischen Team, das derzeit den Berg mit kilometerlangen Seilen präpariert, soll unbedingt vermieden werden. Der Showdown in der Todeszone wäre andererseits nur einen Tick von dem entfernt, was sich ohnehin an dramatischen Vorfällen in jeder Saison abspielt.

In dieser Höhe ist sich jeder selbst der Nächste

Der US-Journalist und Bergsteiger Michael Kodas beschreibt in seinem Buch „Der Gipfel des Verbrechens“ von dem Auseinanderfallen seiner Expedition 2004 und recherchierte detailgetreu, wie der 69-jährige Arzt Nils Antezana nach der Besteigung des Everest in 8400 Metern völlig entkräftet den Tod fand. Verlassen von seinem Bergführer und den zwei Sherpas, die er mit tausenden von Dollars bezahlt hatte. In einem letzten Aufflackern von Bewusstsein soll er noch das Bein eines Sherpas umklammert haben, doch in dieser Höhe ist sich jeder selbst der Nächste, wie auch der Tod des Briten David Sharp bezeugt. Gleich vierzig Bergsteiger ließen ihn liegen, ihr teuer bezahlter eigener Lebenstraum war ihnen näher als der Versuch, ein fremdes Leben zu retten und dafür vielleicht auf ein Gipfelfoto verzichten zu müssen.

Michael Kodas beschreibt eine rechtsfreie Zone, die schon im Basislager beginnt: „Einige Bergsteiger schmuggelten Drogen über die Staatsgrenze und dröhnten sich zu (...) Prostituierte und Zuhälter spazierten durch das Basislager (...) Mitglieder unserer Expedition wurden körperlich bedroht, von der Energieversorgung abgeschnitten.“

Ein Diebstahl als Todesurteil

Die Sitten verrohen mit jedem weiteren Höhenmeter. Der Diebstahl eines Schlafsacks, Zeltes, von Nahrung oder Sauerstoffflaschen ist im Basislager ärgerlich, auf über 8000 Metern aber ein in Kauf genommenes Todesurteil für den Bestohlenen. Wie schnell man seine eigene Moral verliert, erlebt Kodas am eigenen Leib, als er kurzzeitig überlegt, fremde Zelte auf knapp 7200 Metern nach Nahrung abzusuchen. Längst ist er vom Versorgungsstrom seiner Expedition nahezu gekappt, muss tausende Dollar für Dienste bezahlen, die dann nicht erfüllt werden und merkt, wie ihm der „Gipfelrausch“ das normale, menschliche Empfinden vernebelt. Er steigt ab, einige aber wagen sich mit miserabelster Ausrüstung weiter hoch, in der Hoffnung, von gut ausgestatteten Expeditionen quasi mitgezogen zu werden. Diese wiederum verlangen Maut für die von ihnen fixierten Seile.

Bis zu 60000 Dollar lassen sich reiche Laien das Gesamtpaket bis zum Gipfel kosten, kein Wunder, so Kodas’ Analyse, dass die riesigen Geldmengen auch skrupellose Charaktere ins Basislager locken. So wie Antezanas Bergführer, der sich seine, mit einem geklauten Foto belegte, angebliche Gipfelkompetenz teuer bezahlen ließ.

"Autobahn zum Gipfel"

Man kann die Brisanz von Kodas’ 400-Seiten-Reportage über die Degeneration des Bergethos noch besser ermessen, wenn man parallel zu Reinhold Messners neu als Taschenbuch erschienenem „Mount Everest“ greift. Die Motivation der Bergsteiger ist zeitlos: „Ja, ich bin ein verrückter Europäer, der hierher kommt, weil er sonst keine andere Möglichkeit findet, seinem Leben einen tieferen Sinn zu geben“, schreibt Messner 1978, als er zusammen mit Peter Habeler als erster den Gipfel ohne Sauerstoff bezwingt. In den 25 Jahren seit der Erstbesteigung 1953 waren bis dato 60 Menschen auf dem Gipfel gewesen. Allein 2007 sind es über 500.

Die mit Leitern und Seilen gesicherte „Autobahn zum Gipfel“ hat nichts mehr gemein mit dem „dritten Pol“, an dem Legenden wie George Leigh Mallory 1924 heroisch scheiterten. Die Everest-Industrie verspricht heutzutage Menschen Gipfelglück, die nicht einmal Basistechniken wie Abseilen beherrschen. „Wenn ein Haufen Dilettanten das Dach der Erde stürmt und ein paar der Verlorenen gerettet werden, ist das wie ein Trauerspiel, eine klassische Tragödie“, schreibt Messner. „Es ist aber die Perversion des Bergsteigens.“ Der Everest ist zum Sinnbild der menschlichen Natur geworden, zum Gipfel der Verkommenheit.

Volker Isfort

Michael Kodas: „Der Gipfel des Verbrechens“; (Malik, 414 Seiten, 18 Euro)
Reinhold Messner: „Mount Everest“ (Frederking & Thaler TB, 250 Seiten, 12 Euro)

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