Debra Milke: Ein halbes Leben im Todestrakt

Der Tag ihres Todes war genau geplant. Sie hatten ihn sogar schon einmal geprobt. Die letzte Mahlzeit durfte sie selbst bestimmen, die Art, wie sie sterben würde auch. Debra Milke (51) entschied sich für die Giftspritze und das übliche Gefängnis-Essen. Der 29. Januar 1998 sollte der Tag ihrer Hinrichtung sein. Aber es kam anders.
Debra Milke saß 24 Jahre im Gefängnis, 22 Jahre davon in einer Todeszelle. Sie war 1990 dafür verurteilt worden, zwei Männer zum Mord an ihrem eigenen Sohn Christopher (4) angestiftet zu haben. Ihr Todesurteil wurde 1991 verkündet. Doch es blieben immer Zweifel an ihrer Schuld. Immer wieder wurde der Fall behandelt.
Seit einem Jahr lebt die gebürtige Berlinerin endgültig in Freiheit, nun ist eine Biografie über ihr Leben erschienen. Das Buch trägt den Titel "Ein geraubtes Leben". Die Journalistin Jana Bommersbach hat ihren Fall begleitet. Sehr detailreich und persönlich erzählt sie die Geschichte der einstigen Todeskandidatin.
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Milke wurde 1964 in Berlin geboren, wuchs aber in den USA auf. Die Mutter war Deutsche, der Vater amerikanischer Soldat. Das Verhältnis zu ihm sei schwierig gewesen, das zur Mutter eng, heißt es im Buch. Debra heiratete jung, bekam ein Kind. Die Ehe zerbrach 1988. Viele Seiten widmet Bommersbach jenem 2. Dezember 1989, an dem Milke ihrem Sohn morgens ein Sweatshirt mit einem Dinosaurier darauf anzog. An dem er ihr noch zugerufen habe "See you later, alligator!" Und sie geantwortet habe: "After a while, crocodile."
Die Todeszelle: Drei Mal in der Woche darf Milke duschen
Der Kleine stieg in das Auto ihres Mitbewohners, sie wollten angeblich in ein Einkaufszentrum fahren. Christopher sollte den Weihnachtsmann sehen. Aber der Mann und ein Freund von ihm fuhren mit dem Buben in die Wüste und töteten ihn in einem trockenen Flusslauf mit mehreren Schüssen in den Hinterkopf.
Eine Szene habe Milke seitdem immer wieder durchlebt, schreibt die Autorin. Wie ein Polizist ihr erklärte, dass ihr Sohn tot sei und sie unter Arrest stehe. Wie sie in einem kleinen Raum vernommen wurde. Letztlich war es diese Vernehmung, auf die sich das Urteil stützte. Die Aussage des Polizisten reichte. Er berief sich auf sein Gedächtnis und behauptete, Milke habe ihm den Vorwurf gestanden. Eine Tonbandaufnahme gab es nicht. Auch kein Protokoll.
Milke landete in einer Einzelzelle im Gefängnis Perryville am Rande von Phoenix, Arizona. Die Zelle war zwei mal drei Meter groß. Stahlgrauer Beton. Ein Klo, ein Waschbecken, ein Bett. Mehr nicht. Tagein, tagaus war sie dort allein. Das Essen wurde ihr durch eine Klappe in der Tür gereicht. Die einzige Möglichkeit, sich mit anderen Frauen in dem Trakt auszutauschen, war von Fenster zu Fenster oder durch den Lüftungsschacht.
Routine, das sei ihr wichtig gewesen. Jeden Morgen sei sie um vier Uhr aufgestanden, habe Briefe geschrieben, sich Notizen gemacht. Einmal in der Woche durfte sie raus auf den Hof, drei Mal in der Woche durfte sie duschen. Ansonsten blieb ihr als Ablenkung nur eins: ein 13-Zoll-Farbfernseher. Sie schaute Reiseberichte.
"In meiner Zelle, da habe ich auch oft am Fenster gesessen. Das konnte ich zwei Zentimeter öffnen. Ich steckte die Nase raus und schaute über die Felder auf die Fernstraße nach Kalifornien, überlegte, wo die Autos wohl hinfahren und malte mir Geschichten dazu aus", erzählt die gebürtige Berlinerin in einem Interview mit der Wochenzeitung "Die Welt".
"Ich habe nie Rache in meinem Herzen gehabt"
Die Hoffnung gab sie nicht auf. Die Motivation in all den Jahren? "Ich war ja unschuldig." Ihre Unterstützer lieferten sich ein Gezerre mit der Justiz. Nächtelang verbrachten ihre Anwälte im Büro des Gerichtsschreibers in Arizona und durchforsteten Dokumente im Kleinbildformat.
Der Polizist, der sie verhört hatte, wurde schließlich überführt, in anderen Fällen vor Gericht gelogen zu haben. 2013 kassierte ein Berufungsgericht das Urteil gegen Milke. Sie wurde gegen Auflagen entlassen. "In dem Augenblick, als ich aus der schwarz-weiß gestreiften Häftlingskutte stieg und normale Kleidung anzog, wurde mir schlagartig bewusst: Das passiert wirklich. Meine beiden Anwälte holten mich ab, und dann saß ich plötzlich selbst in einem Auto auf der Fernstraße. Der Himmel war so unvorstellbar weit", so die 51-Jährige im "Welt"-Gespräch weiter. Am 23. März 2015 wurde das Verfahren schließlich endgültig eingestellt.
Sie durfte nun endlich reisen. Und flog nach Berlin. Das letzte Mal war sie mit 19 dort, da stand die Mauer noch. Im Buch schildert sie die Rückkehr: "Nun konnte ich durch das Brandenburger Tor gehen, und auf einmal war ich auf der anderen Seite der Mauer – genauso wie ich mich jetzt auf der anderen Seite des Gefängniszauns befinde."
Sie lebt jetzt in Phoenix. Wenn sich Freunde treffen wollten, erfinde sie oft Ausreden. "Ich war die Hälfte meines Lebens in Einzelhaft" – das hat Spuren hinterlassen. Einen Fernseher hat sie heute nicht mehr. "Ich habe im Gefängnis so viel ferngesehen, das reicht für den Rest meines Lebens."
Rachegefühle gegenüber den Mördern ihres Sohnes hat Milke nicht. "Ich habe nie Rache in meinem Herzen gehabt. Solange sie im Gefängnis bleiben", sagte sie bei "Menschen bei Maischberger".
Sie hat inzwischen eine Zivilklage gegen die Behörden in Arizona eingereicht, um Schadensersatz für die Haftzeit zu bekommen.