Das Sommerloch als Sommerlochthema
BERLIN - Das Ortsschild der Gemeinde Sommerloch in Rheinland-Pfalz muss immer wieder zur Illustration herhalten, wenn sich im Sommerloch Juli und August Promis und Tiergeschichten in den Vordergrund drängen. Doch gibt es sie überhaupt noch, die «Saure-Gurken-Zeit»?
Den Gurken-Namen trug das mediale Flauten-Phänomen bis in die 70er Jahre, wenn man es damals überhaupt benennen wollte. Die Taktung der Nachrichten war früher langsamer, das Mediengeschäft bedächtiger, die Angst entsprechend kleiner, nichts zu melden zu haben und deshalb womöglich lieber Banales als nichts zu verbreiten.
Dieses Jahr haben sich bereits viele Medien und Blogger über das angebliche Sommerloch ausgelassen. Zu den bisherigen Höhepunkten zählten viele das Theater um die «seherische» Krake Paul, das erneute Ehe-Drama von Lothar Matthäus, ein Musikvideo von Lena, in dem die Eurovisions-Siegerin Autodiebstahl verharmlose, den Vorschlag von FDP-Politiker Erwin Lotter, Kindern Fast Food zu verbieten, oder die Idee von Marco Wanderwitz (CDU), Übergewichtige mehr an den Gesundheitskosten zu beteiligen.
Der Vorstoß von Rainer Brüderle (FDP), die Rentengarantie zu kassieren, passt nicht ganz ins klassische Schema - sein Amt als Wirtschaftsminister ist eigentlich zu hochrangig.
Doch die genannten Themen haben alle nicht die Tragfähigkeit, tagelang aufzuregen. Kein Hinterbänkler schafft es heute noch, die Nation wochenlang in Wallung zu bringen. Das Spiel ist durchschaut. Banales wird heute, wenn überhaupt, nur noch kurz aufgebauscht, dann zieht die Karawane weiter. Außerdem: die Spaßgesellschaft der 90er ist längst vorbei. 1994 reichte noch ein ausgebüxter Kaiman namens «Sammy», um die Fantasie längere Zeit zu beflügeln.
Heutzutage entsteht nicht gleich eine Nachrichtenflaute, nur weil der Bundestag sitzungsfrei hat. Es passiert genug Skandalöses und Schockierendes - sei es bei der Loveparade, im Golf von Mexiko, in Afghanistan, Nordkorea oder in den Chefetagen von Banken. Ein Umstand, der eine Art Sehnsucht auslöst. Eine Sehnsucht nach dem guten alten Sommerloch, das jedoch versiegt ist. Gemein: Man muss sich das Sommerloch heute selber schaffen.
Mehrere neue Bücher predigen zurzeit das digitale Fasten, die nachrichtenfreie Muße. Christoph Koch schrieb einen Selbstversuch über 40 Tage ohne E-Mail und Mobiltelefon («Ich bin dann mal offline»), der «SZ»-Feuilletonist Alex Rühle führte Tagebuch über sechs Monate analoges Leben («Ohne Netz - Mein halbes Jahr offline»). In Anlehnung an Hape Kerkelings Bestseller «Ich bin dann mal weg» titelte auch das Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» letzte Woche «Ich bin dann mal off».
Die Sache mit dem Sommerloch ist also kompliziert geworden. Und eigentlich doch recht einfach. Viele Medien setzen eigene Schwerpunkte.
Die seit einem Jahr amtierende Chefredakteurin der «Tageszeitung», Ines Pohl, sagt: «In einer globalisierten Welt ist natürlich immer irgendwo Winter. Und auch im eigenen Land gibt es genügend Kältezonen, von den Kosten im Gesundheitswesen bis zur Lobbyarbeit im Regierungsviertel. Darüber wird die "taz" in den kommenden Wochen ausführlich berichten. Wir werden das sogenannte Sommerloch nutzen, um einigen Verantwortlichen ordentlich einzuheizen.»
Der stellvertretende Chefredakteur («Chefredaktor») der «Neuen Zürcher Zeitung», René Zeller, sagt: «Wenn die politischen Mühlen nicht mahlen, kann sich die Presse anderen Themen zuwenden, die sonst zu kurz kommen. So gesehen, ist das "real existierende" Sommerloch vor allem eine Chance: Die Medienschaffenden sind gehalten, die journalistische Neugier zu aktivieren, thematische Fundstücke auszugraben. Und das geneigte Publikum wird während einiger Wochen von den ewig gleichen politischen Fanfarenstößen verschont.»
Kurt Tucholsky (alias Kaspar Hauser) ließ sich bereits 1931 in der Zeitschrift «Die Weltbühne» über das Loch an sich aus: «Ein Loch ist da, wo etwas nicht ist. Das Loch ist ein ewiger Kompagnon des Nicht-Lochs: Loch allein kommt nicht vor, so leid es mir tut...» Auch auf die Medien, die als «Verwalter» von Sommerlöchern nicht ins Nichts fallen möchten, könnte man Tucholsky beziehen: «Das Merkwürdigste an einem Loch ist der Rand. Er gehört noch zum Etwas, sieht aber beständig in das Nichts, eine Grenzwache der Materie.»
dpa