Das Protokoll des Blutbades: "Rennt, rennt!"

Der unfassbare Amoklauf im schwäbischen Winnenden. Wie der 17-jährige Tim Kretschmer 15 Menschen erschießt: Schüler, Lehrerinnen, Passanten - und sich am Schluss selbst tötet
Die Schulhefte liegen noch aufgeschlagen im Klassenraum. Als ob sie gerade nur in der Pause sind. Doch die Schüler der Albertville-Realschule in Winnenden sind nicht in der Pause. Sie sind geflüchtet, vor Tim Kretschmer, dem Amokläufer. Am Ende des schrecklichen Blutbades sind neun Schüler, drei Lehrerinnen, drei weitere Menschen und Tim Kretschmer tot. Die AZ dokumentiert den Tag, als der Terror über Winnenden hereinbrach.
Kurz vor 9.30 Uhr, Albertville-Realschule: Tim Kretschmer trägt eine schwarze Kampfuniform und eine Pistole vom Typ Beretta, als er seine ehemalige Schule betritt. Nebenan gibt es eine Grundschule, eine Hauptschule und zwei Gymnasien. Doch Kretschmer hat es auf seine alte Schule abgesehen. Er stürmt ins oberste Stockwerk. Sein Ziel sind die Klassenräume 304 und 305. Kretschmer reißt die Tür auf, seine Beretta gezückt. Er schießt, wortlos. Er zielt direkt auf die Köpfe seiner Opfer. Fünf sterben. Es geht so schnell, manche halten noch ihre Stifte in der Hand, als man sie später findet.
Kurz nach 9.30 Uhr, Albertvile-Realschule: Tim Kretschmer stürmt in den nächsten Klassenraum, erschießt zwei weitere Schüler, verwundet mehrere. Zum Nachladen verlässt er den Raum. Geistesgegenwärtig sperrt die Lehrerin die Tür ab. Der Amokläufer ist wütend, versucht, das Schloss aufzuschießen. Es gelingt ihm nicht.
9.33 Uhr, Polizei: Der erste Schüler setzt einen Notruf ab. Was er sagt, ist kaum zu verstehen, im Hintergrund hören die Polizisten laute Schreie.
9.35 Uhr, Albertville-Schule: Kretschmer läuft in den Physikraum, erschießt eine Lehrerin. „Ich habe zwei Schüsse und Geschrei gehört“, sagt die 15-jährige Betty. „Erst dachte ich, es sei ein Scherz. Aber dann rief jemand: ,Rennt, rennt!’ Dann hab ich gesehen, wie Mitschüler aus dem Fenster gesprungen sind.“ Die ersten Polizisten sind am Tatort, der Schütze flüchtet – im Gang erschießt er noch zwei Lehrerinnen. Eine von ihnen, eine Referendarin, wirft sich schützend vor eine Schülerin. Am Ende sind drei Lehrerinnen tot und neun Schüler. Sie sind zwischen 14 und 15 Jahren alt.
Kurz vor 9.35 Uhr: Tim Kretschmer kann vom Schulgelände entkommen, rennt zum Psychiatrischen Landeskrankenhaus 200 Meter weiter südlich. Dort kreuzt der Hausmeister des Klinikums seinen Weg. Kretschmer erschießt ihn. Der Gärtner der Krankenhauses, der alles mit ansehen muss, flüchtet.
9.45 Uhr, Winnenden: Die Polizei warnt per Lautsprecherwagen die Bevölkerung. Nicht rausgehen, niemanden mitnehmen. Ganz Winnenden lebt jetzt in Angst. Im Gymnasium neben der Realschule harren die verschreckten Schüler in ihren Klassenräumen aus. Die Fenster werden zugezogen. Die Lehrer sagen, dass sich die Kinder auf den Boden setzen sollen. Einige zücken ihre Handys und verfolgen damit die Nachrichten im Radio. In der Grundschule werden die Kleinen abgelenkt: Ihre Lehrer backen Waffeln mit ihnen.
10.00 Uhr, Weiler am Stein: Das Elternhaus von Kretschmer liegt zwölf Kilometer von der Schule in Winnenden entfernt. Hier wohnen die Leute, denen es gut geht. Das weiße Haus liegt direkt an der Durchfahrtsstraße. Vermummte Einsatzkräfte stürmen das Haus, finden 14 Schusswaffen.
Zwischen 11 und 12 Uhr, Winnenden: Ein 41-jähriger Mann kommt gerade mit seinem VW Sharan vom Klinikparkplatz, er hat seine Frau besucht. Kretschmer klettert auf den Rücksitz, zwingt ihn mit vorgehaltener Waffe, loszufahren. Zuerst auf der B27 Richtung Tübingen. Der Amokläufer ist unschlüssig, wo er hinsoll. Die Fahrt geht erst nach Nürtingen, dann nach Wendlingen. In einer scharfen Kurve gerät das Auto von der Fahrbahn ab, bleibt auf dem Seitenstreifen liegen. Der Fahrer nutzt die Situation zur Flucht. Kretschmer flieht ebenfalls zu Fuß, weil plötzlich ein Streifenwagen auftaucht.
12.15 Uhr, Realschule: Im Gemeindesaal gegenüber der Schule tagt das Kriseninterventionsteam. Polizisten mit Maschinenpistolen sichern das Gelände. Auf dem Boden liegen Plastikhandschuhe. Sie sind blutgetränkt. Die Realschüler sind längst weg. Sie wurden in den Nachbarort gebracht. Keiner kommt an sie heran.
13 Uhr, Weiler am Stein: Drei große Einsatzwagen der Polizei schirmen das Elternhaus von Tim Kretschmer ab. „Gehen Sie in Ihre Wohnungen“, sagen die Beamten zu den Anwohnern. Drei Mädchen und ein Junge kommen zum Elternhaus des Amokläufers. Sie scheinen seine Freunde zu sein. Die Mädchen weinen. Vincenzo Palmieri, der neben den Kretschmers wohnt, sagt: „Ich habe große Angst gehabt. Überall um mich herum waren bewaffnete Polizisten.“
13.22 Uhr, Gewerbegebiet Wertstraße, Wendlingen: Tim Kretschmer stürmt die Filiale des Autohauses Hahn. Ohne zu zögern und ohne ein Wort erschießt er einen 36 Jahre alten Verkaufsberater und dessen 46-jährigen Kunden. Kretschmer will ein Auto klauen. Doch die Polizei umstellt das Autohaus. Schüsse fallen. Eine 37-jährige Polizistin und ihr 38-jähriger Kollege vom Revier Filderstadt werden schwer verletzt. Tim Kretschmer nimmt Deckung hinter einem Auto. Tim Kretschmer gibt noch einen letzten Schuss ab. Er gilt ihm selbst.
13.27 Uhr, Winnenden: Die Politiker, die am Unglücksort eintreffen, sind berührt. Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU) spricht den Angehörigen und den Schülern und Lehrer sein Mitgefühl aus: „Baden-Württemberg ist tief getroffen“, sagt er. Später kondolieren Kanzlerin Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundespräsident Horst Köhler.
20 Uhr, Winnenden: Zu Hunderten gedenken Menschen bei einem Trauergottesdienst der Opfer. Viele finden keinen Einlass mehr. Der evangelische Landesbischof Otfried July sagt: „Der Tod hat Einzug gehalten in hässlicher und brutaler Form.“ „Es herrscht Fassungslosigkeit, Ratlosigkeit, Ohnmacht und blankes Entsetzen“, so der katholische Weihbischof Thomas Maria Renz. Bastian Henrichs , Oliver Keppler