Interview

Das erschöpfte Gehirn: Warum unsere mentale Energie schwindet

Für Entscheidungen, aber auch für Kreativität und Resilienz brauchen wir mentale Energie. Diese schwindet zunehmend, warnt Arzt Michael Nehls. Wie man gegensteuert.
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"Unser Gehirn erschöpft", warnt Arzt Michael Nehls.
"Unser Gehirn erschöpft", warnt Arzt Michael Nehls. © imago images/Addictive Stock

München - AZ-Interview mit Arzt und Gehirnforscher Michael Nehls über die Erschöpfung des Gehirns im modernen Leben und wie das Gehirn gesund gehalten werden kann. 

Michael Nehls: Unser Gehirn erschöpft 

AZ: Herr Nehls, unser Gehirn arbeitet rund um die Uhr - viele Routinen laufen ab, ohne dass wir überhaupt bewusst darüber nachdenken. Doch Sie sagen: Unsere mentale Energie ist begrenzt und schwindet immer weiter. Warum erschöpft unser Gehirn
Michael Nehls: Im Jahr 2002 wurde der Wirtschaftsnobelpreis zwei Psychologen verliehen für die Entdeckung, dass unser Gehirn, um zu Entscheidungen zu gelangen, zwei unterschiedliche Denksysteme nutzt. Das eine Denksystem meistert sämtliche Routinen in unserem Leben. Es ist schnell und benötigt wenig mentale Energie.

Michael Nehls
Michael Nehls © Alex Jung

Und das andere?
Das andere Denksystem kommt nur zum Einsatz, wenn wir etwas Neues erleben oder etwas außerhalb des Gewohnten denken oder tun. Es arbeitet langsam, verbraucht jedoch viel mentale Energie. Und genau hierin liegt das Problem in unserer hektischen Zeit. Da der mentale Energiespeicher nur eine begrenzte Kapazität hat, erschöpft sich unser Gehirn, wenn wir zu viele schwierige Situationen meistern oder problematische Entscheidungen treffen müssen.

Nehls: Mentale Energie entspringt aus "Frontalhirn-Akku"

Wo genau entsteht diese Energie und für welche Aspekte des Lebens benötigen wir sie noch?
Die Frage, wo unsere mentale Energie entspringt und letztendlich auch, welcher Natur sie ist, war bisher unbeantwortet. Man kannte jedoch ein paar ihrer Eigenschaften. So wusste man zum Beispiel, dass die von der sogenannten Exekutivzentrale unseres Gehirns, die sich im Frontalhirn direkt hinter der Stirn befindet, benötigt wird, um gute Lebensentscheidungen treffen zu können. Sie verbraucht sich dabei allerdings, im Schlaf regeneriert sie sich wieder. Mit diesen und einigen weiteren solcher Eigenschaften machte ich mich auf die Suche nach ihrer Quelle, wurde fündig und nannte sie den "Frontalhirn-Akku". Wie sich herausstellte, liefert dieser nicht nur die Energie zum Planen, Entscheiden und Ausführen neuer Ideen. Seine Kapazität steht auch in direkter Beziehung zu Selbstwertgefühl und Durchhaltevermögen, aber auch für unsere psychische Widerstandskraft und die Fähigkeit, neue Herausforderungen zu bewältigen, ist er von großer Bedeutung.

Welche negativen Einflüsse schaden ihm?
Unser Frontalhirn-Akku lädt sich nur wieder auf, wenn wir tief schlafen. Wer schlecht schläft, steigt noch erschöpft aus dem Bett und ist den ganzen Tag über weniger leistungsfähig. Das kennt jeder. Doch bis zu dieser Entdeckung war nicht bekannt, dass der Frontalhirn-Akku lebenslang wachsen muss, um seine Ladekapazität zu erhalten. Deshalb besitzt er als einziger Teil unseres Gehirns die besondere Fähigkeit, bis ins höchste Alter neue Hirnzellen zu bilden. Ist deren Produktion aufgrund unserer modernen Lebensweise jedoch beeinträchtigt, verliert der Frontalhirn-Akku kontinuierlich an Leistungsfähigkeit. Die Folge: Wir erschöpfen schneller und letztendlich dauerhaft.

Nehls: Durch Moderne Lebensweise in stereotypen Denkweisen gefangen

Was macht das mit uns?
Mit dem Kapazitätsverlust des Frontalhirn-Akkus sinkt unsere psychische Resilienz, und wir entwickeln eine regelrechte Angst vor neuen Erfahrungen. Alles Unbekannte wirkt bedrohlicher, als es sein müsste. Wir sind gefangen in stereotypen Denk- und Verhaltensmustern beziehungsweise alltäglichen Routinen. Wir werden immer unfähiger, unsere Lebensweise zu ändern, selbst wenn wir wissen, dass diese uns selbst oder anderen schadet.

Können Sie Alltagssituationen beschreiben, an denen man merkt, dass einem diese mentale Energie gerade fehlt?
Wir benötigen mentale Energie, um kreativ zu sein oder Neues zu wagen, aber auch, um etwas durchzuhalten, was wir uns vorgenommen haben, wie eine Diät zum Beispiel. Ich selbst achte zwar darauf, mich gesund zu ernähren. Doch sobald ich nach einem anstrengenden Tag in Ruhe komme, fällt es mir sehr schwer, den Verlockungen einer Tafel Schokolade oder einer Packung Erdnüsse zu widerstehen. Weil es mir abends nicht nur an Durchhaltevermögen, sondern auch an Gelassenheit und Nervenstärke fehlt, habe ich mir abgewöhnt, zu dieser Tageszeit noch irgendwelche schweren Themen zu bearbeiten oder zu besprechen. Am nächsten Morgen fällt mir dies alles so viel leichter.

Nehls: Frontalhirn-Akku schrumpft immer mehr

Sie schreiben in Ihrem Buch "Das erschöpfte Gehirn" sogar von einer "Pandemie der Frontalhirnschwächung" - wie verbreitet ist das Problem also schon?
Wie zuvor erwähnt, hat der Frontalhirn-Akku die Fähigkeit, lebenslang zu wachsen. Doch Mängel in nahezu allen Lebensbereichen führen dazu, dass er nicht wächst, sondern schrumpft - in unserer modernen Gesellschaft um etwa ein Prozent pro Lebensjahr. Das ist der Durchschnitt bei Erwachsenen.

Und bei Kindern?
Da unsere Kinder in derselben Kultur aufwachsen und daher unter denselben Mängeln leiden, muss man davon ausgehen, dass deren Frontalhirn-Akku erst gar nicht das volle Potenzial entwickeln kann, das ihnen in die Wiege gelegt wurde. Wir haben somit ein weltweites und generationsübergreifendes Problem, das zudem selbstverstärkend wirkt: Gehirne, denen es chronisch an mentaler Energie mangelt, um die Auswirkungen ihres Verhaltes zu durchdenken, treffen häufiger ungute Lebensentscheidungen, die den Kapazitätsverlust sogar noch beschleunigen können.

Die Folge: Höhere Anfälligkeit für Depression und Alzheimer

Auch Alzheimer und Depressionen können sich daraus entwickeln, heißt es in Ihrem Buch - kann man noch gegensteuern, wenn man schon länger verspürt, dass sich das Gehirn erschöpft anfühlt?
Je kleiner die Kapazität beziehungsweise das Volumen des Frontalhirn-Akkus desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, eine Depression zu entwickeln oder langfristig an Alzheimer zu erkranken. Das bedeutet, je größer die Differenzen sind zwischen den natürlichen Bedürfnissen für sein Wachstum und dem jeweiligen Lebensstil, desto größer das Erkrankungsrisiko. Deshalb ist es lebenswichtig, diese Unstimmigkeiten zu kennen und so schnell wie möglich zu beheben. Sobald die Kapazität des Frontalhirn-Akkus wieder ansteigt, fühlen wir uns wieder lebendiger und leistungsfähiger, was wir dann auch tatsächlich sind.

Wie hat die Corona-Pandemie das Gefühl der erschöpften Gesellschaft aus Ihrer Sicht beeinflusst?
Leider negativ in nahezu allen Bereichen unseres Lebens. Vereinsamung aufgrund der Pandemie-Regeln, Angst vor Infektion wie auch vor dem Verlust der Lebensgrundlage führen zu gefährlichem Stress, der den Frontalhirn-Akku am Wachstum hindert und ihn sogar schrumpfen lässt. Dazu ein Mangel an Bewegung, sozialen Kontakten, oft kombiniert mit einer schlechteren Ernährung sorgten dafür, dass die Depressionsraten weltweit in die Höhe schossen. Ein eindeutiges Zeichen dafür, dass unter Corona und den Maßnahmen der Frontalhirn-Akku leidet wie die Psyche der Betroffenen. Was unserem mentalen Akku hilft: Guter Schlaf, soziale Kontakte, Omega-3-Fettsäuren.

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Nehls: Viel Sport, Soziale Aktivitäten und Omega-3-Fettsäuren 

Was kann man für seine mentale Energie tun?
"Um den Frontalhirn-Akku aufzuladen, genügt ein guter Schlaf", sagt Dr. Michael Nehls. Doch um seine Kapazität lebenslang zu erhalten, reiche dieser alleine nicht aus. "Um sein Wachstum anzuregen, müssen wir einige hormonelle Botenstoffe aktivieren. Diese werden freigesetzt, beispielsweise wenn wir körperlich oder sozial aktiv sind", sagt er. Um täglich neue Nervenzellen bilden zu können, benötige er aber auch Hirnbausteine. "Diese stecken in aquatischen Omega-3-Fettsäuren. Weil diese in unserer modernen Ernährung kaum noch ausreichend vorhanden sind, ist ihre Zufuhr limitiert und so auch sein Wachstum gehemmt." Nehls' Rat: "Da Fisch und Meeresfrüchte, die natürlichen Quellen dieser einzigartigen Fettsäuren, aufgrund der Schadstoffbelastung nicht in großem Umfang verzehrt werden sollten, empfehle ich veganes Algenöl als hirngesunde Alternative." Letztendlich hemme aber jeder Mangel an essenziellen Nährstoffen das Wachstum und führe auf Dauer zu einem Kapazitätsverlust.

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