Corona-Krise und die Psyche: "Im Winter wird es schlimmer"

AZ-Interview mit Ulrich Voderholzer: Der Professor ist Chefarzt der Psychosomatischen Klinik & Psychotherapie an der Schön-Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee.
AZ: Herr Professor Voderholzer, die Kaufmännische Krankenkasse hat kürzlich bekannt gegeben, dass in der Corona-Krise die Zahl derer, die sich wegen psychischer Erkrankungen krankschreiben ließen, um etwa 80 Prozent gestiegen ist. Überrascht Sie das?
Ulrich Voderholzer: Anfangs hat es mich überrascht, ja, dass wir doch bei so vielen Personen mit psychischen Erkrankungen eine deutliche Belastung durch die Krise festgestellt haben. Diese Menschen haben einfach eine geringere Widerstandsfähigkeit.

Corona löst eine große Verunsicherung bei den Menschen aus
Vor welche Herausforderungen hat die Krise Menschen mit Depressionen, Angst- oder Essstörungen gestellt?
Da haben mehr Aspekte eine Rolle gespielt: Die Situation löst natürlich eine große Verunsicherung bei den Menschen aus. Es sind viele Therapiemöglichkeiten ausgefallen und auch das Fehlen der sozialen Kontakte, die für die Stabilität der Erkrankten ein wesentlicher Faktor sind, sind weggefallen.
Nach dem Lockdown wurden viele Witze gerissen, dass man zugenommen habe, und über das Hamstern von Lebensmitteln. Wie aber ging es Menschen, die an Bulimie oder Magersucht leiden, damit?
Sie hatten große Probleme damit, größere, als ich zunächst erwartet hatte. Wir haben Patienten mit Bulimie oder Magersucht gefragt, ob ihre Sorgen mit Corona zugenommen haben und 70 Prozent haben das bejaht. Ein wesentlicher Faktor war dafür das Fehlen sozialer Kontakte.
Wer im Beruf absolut gestresst gewesen ist, konnte sich entspannen
Auch die Hamsterkäufe?
Die Unsicherheit, wie Lebensmittel beschafft werden können, hat eine Rolle gespielt, zumal viele Betroffene mit Essstörungen auf bestimmte Nahrungsmittel eingeengt sind und dadurch vermehrt Ängste entwickelt haben.
Die Krise kann auch eine Chance sein - gibt es auch Patienten, die Corona entlastet statt belastet hat?
Einzelne, aber deutlich weniger. Menschen, die etwa maximal gestresst waren durch den Beruf, waren durch Homeoffice oder Kurzarbeit entlastet, wenn der Job sicher war. Und einzelne Patienten mit einer Zwangsstörung, die aufgrund ihrer Störung stark übertrieben auf Hygiene achten und sich normalerweise für ihr Verhalten schämen, haben gemerkt: Jetzt machen das alle so.
Welchen Rat geben Sie Angehörigen, die vermuten, dass die Krise bei einer nahe stehenden Person eine psychische Erkrankung auslöst oder zumindest begünstigt hat?
Zunächst muss man sagen, dass nicht aus jeder Sorge eine psychische Erkrankung entsteht. Wenn man aber spürt, dass jemand sehr stark belastet ist, kann es für die Betroffenen hilfreich sein, sie offen darauf anzusprechen und gezielt zu fragen, welche Ängste sie umtreiben und zu klären, ob er oder sie Hilfe benötigt.
Die Warteliste in der Schön-Klinik ist im Moment besonders lang
Welche Zeichen deuten darauf hin, dass es sich wirklich um eine Erkrankung der Psyche handelt?
Wenn jemand im Alltag und im Beruf deutlich beeinträchtigt ist, zum Beispiel, weil er permanent grübeln muss, dann sollte er professionelle Hilfe in Anspruch nehmen.
Wie zeigt sich der Anstieg psychischer Erkrankungen in Ihrer Klinik?
Die Wartelisten sind im Moment besonders lang. Anfänglich hat dabei noch eine Rolle gespielt, dass wir aufgrund eines Beschlusses der Regierung aufgefordert wurden, Kapazitäten freizuhalten für an Covid-19 erkrankte Patienten. Damals wusste man noch nicht, wie die Pandemie in Deutschland verlaufen würde, und hatte die Sorge, dass eine Situation wie in Norditalien auftreten könnte, in der nicht mehr alle schwer Erkrankten versorgt werden konnten.
Ist das immer noch so?
Inzwischen wurden die frei gehaltenen Betten wieder belegt, dennoch gibt es lange Wartelisten.
"Wir möchten die Möglichkeit von Teletherapie über das Internet fördern"
Sie mussten also sogar Patienten in der Anfangsphase entlassen?
Ja, vorübergehend mussten Patienten entlassen werden. Ein schönes Beispiel für neue Möglichkeiten, auch in dieser Zeit Therapie durchzuführen, ist der Fall eines Betroffenen, der durch seine Psychologin, die ihn in der Klinik betreut hatte, zu Hause per Video weiter betreut wurde. Das hat super geklappt. So konnte sich der Patient trotz Lockdown und vorzeitiger Entlassung zu Hause sehr gut stabilisieren. Solche Möglichkeiten sollte man anbieten und nutzen.
Ist das eine Therapiemöglichkeit, die bleiben wird?
Wir möchten auch die Möglichkeiten von Teletherapie über das Internet fördern. Wer wegen einer psychischen Erkrankung heute eine ambulante Psychotherapie beginnen will, hat immer noch Schwierigkeiten, einen Therapeuten zu finden. Das kann viele Monate dauern, wobei große regionale Unterschiede bestehen.
Dagegen sind Artzney, zum Beispiel Antidepressiva, sofort verfügbar, obwohl viele Menschen, die Hilfe aufgrund eines psychischen Problems benötigen, lieber Psychotherapie in Anspruch nehmen würden. Das bedauere ich sehr, denn gerade für Menschen, die in peripheren Lagen wohnen, etwa im Bayerischen Wald, ist es sehr schwierig, einen ambulanten Therapie-Platz zu finden. Da denkt man aktuell mit der Videotherapie um, so kann die Corona-Pandemie im Hinblick auf Weiterentwicklung von neuen Therapieoptionen eine Chance sein.
Denken Sie, es wird langfristig psychische Folgen für alle haben, die diese Krise miterlebt haben?
Ich glaube, dass man aus so einer Krise viel lernen kann, etwa, Dinge, auf die man verzichten musste, mehr zu schätzen. Höchstwahrscheinlich müssen wir in den nächsten Jahren noch mit Folgen der Pandemie rechnen, etwa bei Betroffenen, die durch die Krise ihren Job verloren haben oder verlieren können. Eine ehemalige Patientin von mir, die ebenso wie ihr Partner in der Flugbranche tätig ist, ist zum Beispiel durch die Situation stark belastet.
"Wir sollten solidarisch sein und uns an die Maßnahmen halten"
Wie sieht es denn aus bei denjenigen, die tatsächlich an Corona erkrankt sind oder waren?
Es gibt Studien aus Italien, dass Covid-19-Patienten nach Monaten noch erschöpft und müde sind. Das sind körperliche Folgen. Die Erkrankung kann aber durchaus psychische Folgen haben wie jede schwere Krankheit, die zu Depressionen führen kann. Wie lange psychische und körperliche Folgen einer Covid-19-Erkrankung anhalten, das kann man jetzt, das heißt sechs Monate nach Beginn der Pandemie, noch nicht genau sagen.
Was raten Sie allgemein: Wie kommen wir psychisch gut durch die Krise, deren Dauer wir noch nicht abschätzen können?
Generell gilt: Wir stehen alle gemeinsam vor einer Herausforderung und sollten solidarisch sein und uns an die Maßnahmen halten, um die Krise gemeinsam zu bewältigen. Und wir sollten hoffen, dass sie irgendwann vorbei ist. Persönlich denke ich auch nicht, wie manche meinen, dass es mehrere Jahre dauern wird. Die letzte Pandemie hat gut zwei Jahre gedauert.
Was raten Sie konkret?
Man sollte die Zeit sinnvoll nutzen, Arbeiten in Haus oder Wohnung erledigen, die lange liegengeblieben sind und seinen Tag gut strukturieren. Auch kreativ zu sein, kann helfen. Was die eingeschränkten Sozialkontakte betrifft, sollte man sich einen Ruck geben und zum Beispiel Familientreffen auch mal per Videochat ausprobieren und die digitale Medien nutzen, um auch in dieser Situation Sozialkontakte zu pflegen.
Das wird gerade jetzt, wo die dunkle Jahreszeit kommt, vermehrt ein Thema werden.
Ja, ich denke, im Winter wird die Belastung stärker werden - auch wegen der Dunkelheit und der Kälte. Dann sollte man gerade erst recht soziale Kontakte pflegen, eine Struktur für den Tag haben und sich körperlich bewegen. Es kann zum Beispiel auch sinnvoll sein, sich ein Heimtrainingsgerät anzuschaffen.