Bussi hier, Luft-Kuss da
München - Es geschieht überall: Bei privaten Einladungen, offiziellen Anlässen und im Fernsehen, niemand bleibt verschont: Lippenbekenntnisse boomen, selbst Neunjährige knutschen sich morgens gegenseitig auf dem Schulhof – was hinter den Ritualen bei der Begrüßung steckt.
Überall wird geküsst und gebusselt, geherzt oder geknutscht. Wer als Erwachsener nicht die Lippen schürzt, gilt schon als verdächtig. Keine Begrüßung, bei der sich nicht geküsst wird - immer und überall. Das war nicht immer so. Es gab mal eine Zeit ohne bussi-hauchende Männer und ohne wangenküssende Frauen. Eine Zeit, in der man sich die Hand gab. Einfach so. Zwei Arme, ein Lächeln, ein fester Händedruck, fertig. Das ist lange vorbei. „Begrüßungsrituale sind einem ständigen Wandlungsprozess unterworfen“, sagt die Bremer Kulturwissenschaftlerin Ingelore Ebberfeld, „sie ändern sich stetig, werden importiert wie der Chianti oder Cappuccino.“ Die gegenwärtige Invasion des Begrüßungskusses sei Ausdruck eines Wunsches nach einem „leichten, südländischem Leben“ – auch, wenn so ein Kuss selbst sehr komplex ist.
Nichts wäre ja irriger als anzunehmen, ein Begrüßungskuss sei etwas Spontanes, eine leichte Übung. Wissenschaftler unterscheiden mindestens 200 verschiedene Kuss-Arten, und auch wenn klar ist, dass einige von ihnen eher nicht zur Begrüßung eingesetzt werden (Zungenkuss!), bleiben doch viele Möglichkeiten: Zwei, drei, vier Küsse? Den anderen berühren – oder zuvor abstoppen? Erst links, dann rechts? Oder gerade andersrum? Oder ist das nicht ganz egal?
Mund auf Mund, schmatzend
Ist es nicht. Das war es einzig zu der Zeit, als Deutschland noch geteilt war, der Bundeskanzler Helmut Kohl hieß und hinter dem eisernen Vorhang der böse Russe lauerte. Wann immer dieser seinen sozialistischen Bruder empfing – so von Staatsmann zu Staatsmann – konnte man einem besonderen Männerritual beiwohnen: dem sozialistischen Bruderkuss. Am vollendetsten haben den damals die Genossen Leonid Breschnew und Erich Honecker vorgeführt: Umschlungen, Mund auf Mund, schmatzend.
Derart zügellos geht das heute nicht mehr. Aber – wie sonst? In Frankreich gibt man sich je ein Kuss auf die Wange, erst links, dann rechts – nur nicht in Paris. Dort begrüßen sich Freunde mit einer Umarmung und vier Küssen. In Spanien sollte man darauf achten, nie die Wange seines Gegenübers zu touchieren, sondern in die Luft zu hauchen.
In Japan kann man sich auch das sparen: Da ist Küssen in der Öffentlichkeit verpönt. In Deutschland dagegen haucht man meist einen Kuss links, dann rechts auf die Wange – aber auch hier hängt es davon ab, wo man sich aufhält. „Im Süden wird mehr geküsst als im Norden“, sagt Verhaltensforscherin Lisa Oberzaucher. Vielleicht, weil Menschen mit zunehmender Nähe zu Italien auch gleich italienisches Lebensgefühl adaptieren. Nicht von ungefähr jedenfalls hat München den Ruf der „Bussi-Bussi“-Metropole, wohingegen Hamburger sich eher zugeknöpft gegenüber oralen Begrüßungen zeigen.
Der Puls steigt, Stress wird abgebaut
Was ein bisschen schade ist. Schließlich ist lange schon bewiesen, dass Küssen nicht nur Spaß macht, sondern auch gesund ist: Der Puls steigt, Kreislauf und Stoffwechsel kommen in Schwung, Adrenalin und Hormone werden ausgeschüttet. So wird Stress abgebaut, werden Verspannungen gelöst, Schmerzen gelindert.
Dazu hat so ein Begrüßungskuss mindestens einen weiteren Vorteil: Man erfährt viel mehr über sein Gegenüber als durch einen Händedruck auf Halbdistanz. Weil man sich nah kommt. Weil man den Anderen berührt, ihn riecht, ihn schmeckt. „Jeder Mensch sendet Signale aus“, so Ebberfeld, „im Moment des Kusses kann man die sehr gut deuten.“
Und eben deshalb ist der Begrüßungskuss mehr als oberflächliches Rumgebussel – es ist ein lautloser Austausch von Botenstoffen und Botschaften, der schnelle Abgleich von Zugehörigkeiten, das sinnlichste Mittel, soziale Bindungen aufzubauen und zu festigen. „Eigentlich ist es ganz egal, ob man sich zur Begrüßung nun zwei, drei oder viermal auf die Wange küsst“, sagt Ingelore Ebberfeld, „Hauptsache, man tut es“.
Jan Chaberny