Interview

Betreiber von Senioren-WG: Wie sich ambulante und stationäre Pflege ergänzen

Wie gestaltet man Pflege so, dass sie würdig ist, nah am Betroffenen und zudem bezahlbar? Ein Gespräch mit Senioren-WG-Betreiber Kaspar Pfister.
von  Lisa Marie Albrecht
Eine Wohngruppenleiterin kocht mit Pflegebedürftigen. Dass im Betreuten Wohnen Alltag gelebt wird, hält der Heim-Betreiber Kaspar Pfister für eine wichtige Therapie. (Symbolbild)
Eine Wohngruppenleiterin kocht mit Pflegebedürftigen. Dass im Betreuten Wohnen Alltag gelebt wird, hält der Heim-Betreiber Kaspar Pfister für eine wichtige Therapie. (Symbolbild) © imago images / MITO

München - Für viele Menschen ist der Umzug in ein Pflegeheim ein Albtraum: Die Bilder im Kopf zeigen sterile Gemeinschaftsräume ohne Ansprache, Bettlägerigkeit, fades Essen und Resignation. Dass es auch anders geht, zeigt der Pflegedienst-Betreiber Kaspar Pfister mit seinem Familienunternehmen Benevit: In fünf Bundesländern, darunter Bayern, betreibt er unter anderem 124 Hausgemeinschaften, die ein echtes Zuhause sein sollen. Pfister fordert einen Wandel im Pflegesystem. Wie das gelingen kann, beschreibt er im Buch "Wer gebraucht wird, lebt länger".

AZ: Herr Pfister, Ihr Unternehmen Benevit hat 2.000 Mitarbeiter, allein in den festen Einrichtungen wohnen etwa 2.300 Pflegebedürftige. Wie hart hat Sie Corona getroffen?
KASPAR PFISTER: Es war eine sehr fordernde Situation. Aber schon bevor es Vorschriften der Behörden gab, haben wir gehandelt und ausreichend Schutzmaterialien besorgt. Bewohner und Mitarbeiter werden täglich gescreent. In der heißen Phase gab es an zehn Standorten Infektionen, insgesamt waren 114 Menschen infiziert, davon 65 Bewohner. Von diesen wiederum sind 16 mit dem Virus gestorben. Es ist niemand bei uns gestorben, der nicht vorerkrankt war. Und: Es musste bei uns niemand alleine sterben. Seit April sind wir bis heute infektionsfrei.

In Ihren 124 Hausgemeinschaften leben nur jeweils 14 Personen. Hat Ihnen das geholfen?
Ja, das war ein Vorteil. Wir konnten die Häuser aufteilen und kleine Quarantänegruppen bilden.

Was unterscheidet Ihre Wohngemeinschaften vom klassischen Altersheim?
Das hängt davon ab, was man sich unter einem klassischen Altersheim vorstellt.

In Ihrem Buch "Wer gebraucht wird, lebt länger" beschreiben Sie sterile Einheitsmöbel, fades Essen aus der Großküche, wenig Kontaktangebote.
Na ja, ganz so schlecht ist es nicht, aber die meisten Pflegeheime sind zentral organisiert. Da gibt es Stationen, den Speisesaal, die Zentralküche, die Zentralwäscherei. Was uns unterscheidet, ist, dass wir kleine Einheiten bilden, mit einer überschaubaren Anzahl von Menschen, die zusammenleben und sich kennen. Es wird Alltag gelebt: gemeinsam gekocht, gebacken, gewaschen, ein Haushalt geführt. Im Grunde ist es wie eine Studenten-WG, nur mit alten Menschen und unterstützt durch die Mitarbeiter. So entsteht einfach eine andere Atmosphäre.

Eine Wohngruppenleiterin kocht mit Pflegebedürftigen. Dass im Betreuten Wohnen Alltag gelebt wird, hält der Heim-Betreiber Kaspar Pfister für eine wichtige Therapie. (Symbolbild)
Eine Wohngruppenleiterin kocht mit Pflegebedürftigen. Dass im Betreuten Wohnen Alltag gelebt wird, hält der Heim-Betreiber Kaspar Pfister für eine wichtige Therapie. (Symbolbild) © imago images / MITO

Das spiegelt sich auch in der Einrichtung wider: Teppiche statt Laminat, Porzellanteller statt Plastik, Kaminöfen. Warum ist Ihnen das wichtig?
Weil ich den therapeutischen Effekt sehe, der auch in zahlreichen Studien belegt ist. Ein Pflegeheim ist keine Klinik. In einer Klinik ist man ein paar Tage. Im Pflegeheim wohnt man. Bei uns liegt die durchschnittliche Verweildauer bei drei Jahren, im Bundesschnitt sind es in Pflegeheimen unter zwei Jahren. Und das liegt größtenteils daran, dass die Menschen sich zu Hause fühlen und vor allem wieder eine Aufgabe bekommen.

Wie sieht das in der Praxis aus?
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Vor Kurzem habe ich eine meiner Einrichtungen besucht und höre, wie eine Bewohnerin auf einem Elektropiano spielt. Diese Dame ist in die Einrichtung gezogen, und alle gingen davon aus, sie werde in ein oder zwei Wochen sterben. Doch dann hat sie wieder angefangen, Klavier zu spielen, und erzählte mir, wie sie mitbekam, dass das auch die anderen Bewohner freue und sie teils sogar mitsingen. Sie sieht also jetzt ihre Aufgabe darin, dass sie jeden Tag musiziert, um die anderen Bewohner zu erfreuen.

In Ihren Wohngemeinschaften leben aber etwa auch Demenzpatienten. Wie gelingt es, diese in den Alltag einzubinden?
Es geht darum, die Möglichkeiten des Einzelnen zu erkennen. Die sind sehr breit gefächert und auch nicht jeden Tag gleich. Aber wenn ich nur darauf schaue, wo die Defizite liegen, dann werde ich auch nur das erkennen. Und die ganzen Ressourcen, die auch noch in den Menschen stecken, gehen unter. Deswegen besuchen wir die Menschen nach Möglichkeit vor ihrem Einzug zu Hause und schauen: Steht da ein Schachbrett oder ein Flügel? Welche Bücher haben sie im Regal? Zudem sprechen wir mit den Angehörigen und versuchen herauszufinden, woran jemand Freude hat. Und das versuchen wir dann in der Einrichtung anzubieten.

Pfister: "Man muss den Menschen wieder Selbstwert geben"

Ihr Konzept scheint aufzugehen - warum machen es nicht alle in der Altenpflege so?
Weil es schwieriger ist, mehr Organisation braucht, mehr Personal. Ich habe im bundesweiten Vergleich zwischen 40 und 50 Prozent mehr Mitarbeiter am Bewohner. In klassischen Heimen arbeiten viele Mitarbeiter in der Zentralküche oder in der Wäscherei. Ich habe diese Mitarbeiter vor Ort, denn das Hauswirtschaften ist in den WGs ja Teil der Therapie. Zudem kostet unser Konzept mehr Geld: Wenn Sie vier Küchen bauen, ist es teurer, als wenn Sie nur eine bauen, ebenso bei vier Wohnzimmern statt einem Speisesaal.

Rentiert es sich trotzdem?
Das kommt darauf an, wie man das definiert. Für mich war es immer wichtig, dass ich einen wirtschaftlichen Erfolg über Qualität erziele. Ich bin nicht in diesen Bereich gegangen, um die höchstmögliche Rendite zu erzielen. Aber es rechnet sich auch, sonst würden wir nicht existieren.

In Ihrem Buch fordern Sie einen Wandel in der Pflege. Wie soll der aussehen?
In der Theorie wird immer wieder eine aktivierende Pflege beschrieben, aber in der Praxis ist alles darauf ausgerichtet, Risiken zu vermeiden, Stürze zu vermeiden, Defizite zu beheben. Das ist alles richtig. Aber der Fokus muss woanders liegen: Man muss bei den Menschen wieder ein Selbstwertgefühl erzeugen. Nehmen Sie die Dame mit dem Klavier: Niemals hätte man geglaubt, dass sie Klavier spielen könnte. Und dann haben wir es ihr ermöglicht. Das hat ihr Lebensfreude zurückgegeben.

Pfister: "Wer Mittagessen kocht, ist beim Bewohner"

Viele Pflegekräfte berichten, dass ihnen die Zeit fehlt, die Menschen zu aktivieren. Ist der Fachkräftemangel schuld?
Nein, das glaube ich nicht. Vielmehr ist die Organisationsform entscheidend. Wenn ich zentrale Strukturen habe, arbeiten 40 Prozent der Mitarbeiter, die über den Personalschlüssel bereitgestellt werden, nicht beim Bewohner. Das ist bei uns anders. Wer Mittagessen kocht, ist beim Bewohner, spricht mit ihm und bindet ihn ein. Wird die Essensproduktion in der Großküche gemacht, ist das völlig außen vor. Klar, über mehr Geld und mehr Personal freut man sich immer, aber allein damit werden wir die Zukunft nicht bewältigen können. Wir brauchen ein anderes Konzept. In unseren Einrichtungen haben wir etwa 20 Prozent Bewohner, deren Pflegegrad zurückgestuft werden kann. Auch dadurch gewinnt man wieder Personalressourcen.

Das klingt, als hätten Sie keine Probleme, Stellen zu besetzen.
Doch, die haben wir auch. Schon als verkündet wurde, dass man 13.000 zusätzliche Fachkraftstellen finanziert, habe ich gesagt: Das ist ja schön, aber ich kriege die Leute doch gar nicht. Von den 13.000 sind inzwischen vielleicht 3.000 besetzt worden. Deswegen braucht es auch nicht noch mehr gesetzliche Stellen, die wir nicht erfüllen können, genauso wenig wie eine starre Fachkraftquote von 50 Prozent.

Was spricht gegen eine Fachkraftquote?
Diese 50-Prozent-Quote wurde nicht wissenschaftlich evaluiert. Und: Was sind denn Fachkräfte? In der Praxis sieht es dann so aus: Ich möchte eine Hilfskraft einstellen, aber der Gesetzgeber sagt mir, dass ich dann gleichzeitig auch eine Fachkraft einstellen muss. Was passiert also? Ich stelle die Hilfskraft gar nicht ein. Außerdem sollte man bedenken, dass diese Quote nicht nur eine Minimums-, sondern auch eine Maximumsgrenze ist, wenn es um Pflegesatzverhandlungen geht. Generell sind diese ganzen Quoten, Schlüssel und Prozentzahlen eher ein Zwangskorsett. Da würde ich mir mehr Freiheiten wünschen.

Glauben Sie, dass Ihr Konzept - auch angesichts der demografischen Entwicklung - im großen Stil umsetzbar ist?
Ja. Im Buch beschreibe ich ja auch die Weiterentwicklung, nämlich das sogenannte stambulante Konzept, das wir jetzt seit viereinhalb Jahren praktizieren. Wir bringen also ambulante und stationäre Pflege zusammen und binden auch Angehörige ein, die Leistungen übernehmen. Wenn das dann im wohnortnahen Umfeld erfolgt, kann daraus ein sehr zukunftsfähiger Dienstleistungsmix entstehen.

Pfister: "Durch unser Pflegesystem steigt keiner mehr durch"

Dennoch, so sagen Sie selbst, kostet Ihr Weg mehr Geld. Gleichzeitig steigen die Eigenanteile in der Pflege.
Der steigende Eigenanteil ist ein Problem. Einerseits werden permanent die Erwartungen hochgeschraubt, Einzelzimmerquoten, Quadratmeteranzahl und so weiter. Das kostet Geld. Die Leistungen der Pflegeversicherung sind aber fixiert. Zudem kommen jedes Jahr Lohnsteigerungen, aber die Leistungen der Pflegeversicherung bleiben gleich. Diese Leistungen müssen also angepasst werden, damit ein Ausgleich stattfindet. Mit dem stambulanten Konzept haben wir gemeinsam mit den Kassen einen Weg gefunden, der es bei bester Qualität ermöglicht, den Eigenanteil pro Monat um bis zu 800 Euro zu senken.

Wie macht man Pflege für jeden bezahlbar?
Wir haben in Deutschland ein so komplexes, ausdifferenziertes System, dass keiner mehr durchsteigt. Derzeit geht es bei der Finanzierung danach, wo man wohnt, nicht, wie pflegebedürftig man ist. Davon müssen wir meiner Ansicht nach weg. Wir sollten Vertrauen in alte Menschen und ihre Angehörigen haben und sagen: Wer eine Pflegebedürftigkeit hat, bekommt eine Versicherungsleistung, die eine gute Versorgung ermöglicht. Was er mit dieser Versicherungsleistung macht, sollte die Entscheidung des Einzelnen sein. Der Grundsatz der Pflegeversicherung war ja mal: Die pflegebedingten Leistungen soll die Versicherung übernehmen, Unterkunft und Verpflegung sollen vom Bewohner selbst getragen werden und die Investitionskosten kommen von der öffentlichen Hand. Davon sind wir heute meilenweit entfernt. Man redet beim Thema Pflegeversicherung aber auch viel zu wenig über Prävention. Wenn man damit anfängt, wäre das schon ein wichtiger Faktor zur Kosteneindämmung.

Pfister: "Bei uns ist Alter immer defizitär besetzt"

Wie soll diese Prävention aussehen?
Ich appelliere an jeden, sich schon früh zu überlegen, wie er seinen Lebensabend gestalten möchte. Nur wenn wir das Altwerden anders gestalten und ihm wieder Sinnhaftigkeit geben, werden wir von dem Stigma Rentner, alt, Pflegegrad 1 bis 5 wegkommen.

Braucht es also auch einen Wandel in der Wahrnehmung von Alter?
Unbedingt. Bei uns ist Alter immer defizitär besetzt. Aber schaut man in andere Regionen der Erde, zum Beispiel nach Asien, dann ist dort Alter eine Auszeichnung, die Respekt und Ehrfurcht verdient. Die Fähigkeiten und die Erfahrung alter Menschen sollte man nicht einfach als wertlos abtun.


Das Buch "Wer gebraucht wird, lebt länger" ist ab sofort erhältlich. Ullstein Verlag, Hardcover, 224 Seiten, 22 Euro.

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