Aus der Hölle in den Pop-Himmel

Wie Musiker durch ihre Hochs und Tiefs Inspiration finden –und was sie in Songs über sich preisgeben.
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Campino, Leadsänger der Toten Hosen, wehrt sich musikalisch gegen zu viel Fürsorge der Fans.
dpa Campino, Leadsänger der Toten Hosen, wehrt sich musikalisch gegen zu viel Fürsorge der Fans.

Wie Musiker durch ihre Hochs und Tiefs Inspiration finden –und was sie in Songs über sich preisgeben.

Du bist ein Geschenk, seit ich dich kenne / seit ich dich kenne, trage ich Glück im Blick.“ Der Sänger offenbart uns seine Gefühle. „Glück“ heißt der aktuelle Hit von Herbert Grönemeyer. Und natürlich kann man diesen Text kaum hören, ohne an Grönemeyers Geschichte zu denken: den Tod seiner Frau Anna und seines Bruders Wilhelm, 1998, die Krise, das neue Glück mit seiner Schweizer Freundin Sonja. Lädt uns Grönemeyer mit „Glück“ ein, an seinem Privatleben teilzunehmen? Eher nicht: Als die „Bunte“ 2004 Fotos des Paares veröffentlichte, wurden die Gerichte zur Hilfe gerufen.

Keine ganz unbegründete Maßnahme, denn manchmal gerät die Pop-Medien-Maschine gefährlich außer Kontrolle. Britney Spears fuhr mit ihrem konstruierten Image der ewigen Jungfrau irgendwann nur noch Häme ein, bevor sie mit ihren Abstürzen zum Paparazzo-Ziel wurde. „I'm Miss Bad Media Karma, another day, another drama“, gab sie 2007 in „Piece Of Me“ zu – ein Versuch, ganz offensiv mit ihren Problemen und der Öffentlichkeit umzugehen.

Kokain, Heroin, Krankenhaus - kein Grund, nicht darüber zu singen

Eine desolate persönliche Situation ist kein Grund, nicht darüber zu singen. Kokain, Heroin, Ecstasy, Crack – Krankenhaus. Ob Amy Winehouse in „Rehab“ oder auch Pete Doherty in „Fucked Forever“ – der Eindruck drängt sich bei vielen dieser Offenbarungssongs auf, dass Künstler nicht nur das eigene Glücksgefühl sondern gerne private Krisen zur Inspiration nutzen. Man muss nicht lange suchen, um Songs über Absturz und Abhängigkeit zu entdecken. Amerikanische Forscher haben herausgefunden, das sich Drogen in jedem dritten Song der US-Hitparade finden. Noch 1969 allerdings boykottierten viele Radiostationen John Lennons Song „Cold Turkey“, der sich mit den Schmerzen des Heroinentzuges beschäftigte.

Gerade Pop-Künstler balancieren auf dem heiklen Grad zwischen künstlerischem Ausdruck und privatem Bekenntnis. So hatte Eric Clapton mit „Tears in Heaven“ einen Überhit, weil das Publikum wusste, dass er darin über seinen Sohn Connor sang, der 1991 aus dem Fenster gestürzt war.

Eines der wichtigsten Hit-Schreiber-Duos der 50er und 60er waren Jerry Leiber und Mike Stoller. 1961 komponierten sie zusammen mit Ben E. King „Stand By Me“. Generationen von Künstlern und anderen Prominenten haben den Song aufgenommen, mal berührend, mal nicht. Und jede Hörergeneration darf ihr eigenes Liebesleid in die Bilder projizieren und sich den Song aneignen. Als John Lennon die Nummer 1975 veröffentlichte, hatte er eine Affäre mit seiner Sekretärin beendet und sich mit Yoko Ono ausgesöhnt. Wenn man will, kann man das in seiner Version hören. Liebeslieder sind zwar manchmal nur Fassade, oft aber sehr nahe an Geheimnissen, die jeden Klatschreporter brennend interessieren würden.

Zu obszön: Das Plattencover von Lennons und Onos "Unfinished Music No.1"

Begonnen hatten die Beatles, wie viele Pop-Bands zu allen Zeiten, mit Songs wie „Love Me Do“ oder „Please Please Me“, jener Sorte Songs, die erst im Kopf des Hörers eine persönliche Note bekommen. 1968 veröffentlichten Lennon und Ono „Unfinished Music No.1: Two Virgins“. Das Cover zeigte sie nackt. Von vorne und von hinten. Eine radikalere Ausstellung des Privatlebens hatte es bis dahin nicht gegeben. Für diverse US-Gerichte war das Cover obszön, durfte nur in Pappe gehüllt verkauft werden.

Später sollten Lennon und Ono Interviewer im „Bed In“ bis an die Bettkante lassen, und kurz vor Lennons Tod, die Beziehung auf dem Album „Double Fantasy“ der Öffentlichkeit in Songform zugänglich machen. Trotzdem ist es falsch, in Lennon einen der hemmungslosesten Selbstdarsteller zu sehen. Denn hinter dem Ausstellen der Beziehung stand ein Kunstkonzept: Die Veränderung der Gesellschaft fängt im Privaten an. „Give Peace A Chance“ – der Weltfriede, er beginnt bei einer friedlichen Beziehung.

Eine Möglichkeit, um unerkannt um die Geliebte zu buhlen, ist beispielsweise, den Song „Layla“ zu nennen, auch wenn es eigentlich um Pattie Boyd-Harrison geht. Eric Clapton flirtete heftig mit der Frau seines Freundes George Harrison, als er den Song schrieb.

Das Liebeslied - mehr als ein gesungener Tagebucheintrag

Natürlich fließen bei den meisten Songwritern persönliche Erfahrungen in die Stücke ein. Aber trotzdem ist auch das intensivste Liebeslied mehr als ein gesungener Tagebucheintrag, sondern immer noch ein Kunstwerk.

Wenn sich die Fans weiterhin um die Psyche des Stars sorgen, kann man es auch halten wie Campino von den Toten Hosen, derzeit Single: „Alle wollen mir permanent / Ganz lieb helfen / Ich zähle ganz leise nur bis zehn / Um nicht zu platzen,“ singt er auf seinem neuen Album „In Aller Stille“. Da kann man seinem Publikum schon mal entgegenbrüllen: „Innen ist alles neu / Ich seh’ nur von außen scheiße aus.“ In dem Fall darf man den Text als persönliches Statement Campinos verstehen.

Christian Jooß

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