Aufräumen in Bobigny: Aufrechte kämpfen gegen Vorstadt-Gewalt

Bobigny - Traurig betrachtet Ayoub Salem zerstörte Fensterscheiben und ausgebrannte Autos in den Straßen Bobignys. Seit gut zwei Wochen kommt es in der Vorstadt nordöstlich von Paris häufig zu Krawallen. Aufgebrachte junge Menschen fordern "Gerechtigkeit für Théo", einen 22-Jährigen, der mutmaßlich von Polizisten misshandelt wurde.
Längst hat der spektakuläre Fall den französischen Präsidentenwahlkampf erreicht. Die Regierung versucht, die Lage zu beruhigen, Staatschef François Hollande eilte bereits an das Krankenbett von Théo. Die rechtsextreme Front National (FN) geißelt die von vielen Menschen mit Migrationshintergrund bewohnten tristen Vorstädte als rechtsfreie Zonen, die nicht zu Frankreich gehörten, wie es FN-Generalsekretär Nicolas Bay formuliert.
Nach den Ausschreitungen beseitigt Salem im Schatten von Hochhaustürmen gemeinsam mit Koko Tounkara die Schäden der Nacht. Als Mitglieder der unabhängigen Jugendvereine "Jeunesse ambitieuse" ("Ehrgeizige Jugend") und "Apo-G"(für "apogée": "Blütezeit") haben sie eine Aufräumaktion gestartet. Die Vereine unterstützen Jugendliche in der Vorstadt, geben Nachhilfe, vermitteln Jobs.
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Salem und Tounkara ärgern sich über die Krawalle. "Nun schauen alle wieder auf die Randalierer aus der Vorstadt", sagt Tounkara. Er ist hauptberuflich Erzieher und arbeitet ehrenamtlich für die Vereine.
Die wenigsten Gewalttäter kämen aus Bobigny, erzählt der 23-jährige Salem: "Wir zünden ja nicht unsere eigenen Autos an." Tounkara ergänzt: "Die meisten jungen Menschen hier sind engagiert und wollen etwas verbessern."
Théo soll bei seiner Festnahme vor rund zwei Wochen im nahe gelegenen Aulnay-sous-Bois von vier Polizisten schwer verletzt worden sein. Einer der Polizisten wird verdächtigt, ihn mit einem Schlagstock vergewaltigt zu haben. Die Justiz ermittelt.
"Gewalt bei Polizeikontrollen und Festnahmen ist hier Alltag", meinen Tounkara und Salem. Der ebenfalls aus dem Viertel stammende Sozialarbeiter Jean-Pierre Le Coq ergänzt: "Viele Jugendliche fühlen sich von der Polizei nicht respektiert, oft auch diskriminiert." Kontrollen eskalierten deshalb häufig. Erst im vergangenen Sommer starb der 24-jährige Adama Traoré unter nicht völlig geklärten Umständen bei seiner Festnahme in Beaumont-sur-Oise, nördlich von Paris.
Für Sabri Leray gehören Kontrollen zum Alltag. Er trifft sich oft mit seinen Freunden vor dem Einkaufszentrum Bobignys. "Ich habe algerische Wurzeln, wahrscheinlich werde ich deshalb fast täglich kontrolliert", vermutet er. "Die Polizisten duzen mich und zeigen keinen Respekt", berichtet der 25-Jährige.
Das Gefühl, nicht respektiert zu werden, kennen viele Jugendliche aus der Trabantenstadt Bobigny. Der Vorort mit rund 50.000 Einwohnern gilt als sozialer Brennpunkt. "Wer Bobigny als Adresse angibt, hat weniger Chancen auf einen Job", resümiert Sozialarbeiter Le Coq. "Da die Jugendlichen nicht ernst genommen werden, haben sie ein Problem mit Autoritäten."
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Das spüren oft auch die Polizisten. Sie sind ebenfalls Opfer von Gewalt. Erst im letzten Oktober warfen Demonstranten in Viry-Châtillon südlich der Hauptstadt Molotowcocktails in ein Polizeiauto. Der Fall machte landesweit Schlagzeilen, viele Ordnungshüter gingen aus Protest auf die Straße. "Polizisten und Jugendliche haben beiderseits Angst voreinander", sagt Le Coq. "Mehr Kontakt und Dialog würde bereits helfen."
Trotzdem dürfe die Polizei nicht ihre Staatsmacht missbrauchen, findet Le Coq. Er hofft auf eine Verurteilung der Polizisten im Fall Théo. "Das könnte Exempel statuieren und Polizisten daran erinnern, dass auch sie dem Recht unterstellt sind."
In Bobigny schert man sich wenig um Politiker. Die Nichtwähler-Quote lag bei den Regionalwahlen im vorvergangenen Jahr bei über 60 Prozent. "Politiker interessieren sich nur für uns, wenn es brennt. Wir fühlen uns von niemandem repräsentiert", sagt Ayoub Salem.