Angst essen Seele auf

Im RTL-Dschungelcamp gehört die Phobie zum guten Ton. Doch sieben Millionen Deutsche leiden tatsächlich unter krankhafter Furcht, zittern vor Spinnen, Clowns und engen Räumen
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Für "Coulrophobiker" eine Horrorvorstellung: Heiner Lauterbach als Clown.
Martha Schlüter 2 Für "Coulrophobiker" eine Horrorvorstellung: Heiner Lauterbach als Clown.
Nichts für Spinnen-Phobiker.
ddp/Fox 2 Nichts für Spinnen-Phobiker.

Im RTL-Dschungelcamp gehört die Phobie zum guten Ton. Doch sieben Millionen Deutsche leiden tatsächlich unter krankhafter Furcht, zittern vor Spinnen, Clowns und engen Räumen

„Hallo, ich bin Mr. Giggles“, sagt der Clown, als er den Raum betritt, ausgestattet mit roter Nase, gelbem Hut, blauer Pumphose und einer Tröte im Mund. Alle lachen. Nur Kris Eason nicht. Die 40-jährige Amerikanerin schreit auf, fällt fast vom Stuhl und zittert am ganzen Körper. Als Mr. Giggles aus einem Luftballon ein Pferd bastelt, weint sie still in sich hinein. Frau Eason leidet unter „Coulrophobie“, sie hat panische Angst vor Clowns. Klingt komisch, ist es aber nicht.

Die Situation ist Teil ihrer Behandlung, Easons Psychologe hat Mr. Giggles eingeladen, damit sie sich ihren Ängsten stellt, sie überwindet: Endlich wieder mit ihren Kindern in den Zirkus gehen kann. Oder zu McDonald's, ohne die permanente Furcht, dass ein grell geschminktes Horrorwesen namens Ronald McDonald ihr den Appetit verdirbt. Clownphobikerin Eason macht eine „Konfrontationstherapie“, dokumentiert diese per Video im Internet.

"Giftschlangen tauchen nur selten im Wohnzimmer auf"

Deutsche Fernsehzuschauer können zurzeit täglich Ähnliches in der RTL-„Dschungelshow“ bezeugen. Hier werden C- bis Z-Promis durch „Prüfungen“ gequält, zum Beispiel Giulia Siegel, die – nach eigenen Angaben – Phobien gegen Wasser, Dunkelheit, Spinnen und schätzungsweise 300 Millionen weitere Dinge besitzt. Prompt wurde sie in einen dunklen, spinnenverseuchten Wassercontainer gesteckt – und verzog keine Miene.

Während ihre Mit-Insassen im Dschungel nun rätseln, ob Frau Siegel ihre Phobien nur spielt, um sich interessant zu machen (AZ berichtete), steht laut Ärztestatistiken fest, dass in Deutschland tatsächlich 15 Prozent der Bevölkerung, also sieben Millionen Menschen, unter krankhafter Angst leiden. „Die Furcht muss anhaltend und unvernünftig sein – nur dann handelt es sich um eine echte Phobie“, erläutert die Münchner Psychotherapeuten Anna Schoch.

Wer zum Beispiel am Great Barrier Reef schwimmt und sich vor Haien fürchtet, hat durchaus realen Grund zur Sorge. „Tierphobien sind aber auch hierzulande sehr verbreitet, obwohl die Wahrscheinlichkeit äußerst gering ist, dass im Wohnzimmer eine Giftschlange auftaucht“, sagt die Expertin. „Diese Ängste sind oft evolutionär bedingt, stammen aus einer Zeit, als ein Biss das sichere Todesurteil bedeuten konnte.“

Angst vor Maulwürfen und Haut auf der Milch

Doch manche fürchten sich auch vor Maulwürfen, asymmetrischen Gegenständen (TV-Ermittler „Monk“ lässt grüßen) oder der Haut auf abkühlender Milch – Mediziner haben über 500 zum Teil äußerst bizarre Phobien dokumentiert. „Oft rührt die Angst aber von ganz woanders her“, sagt Schoch.

Im Fall der Clown-Phobie könnte neben traumatischen Erlebnissen wie dem Film „Es“ ein vereinfachtes Erklärungsmodell so lauten: Nachdem auf einem Geburtstag ein Clown seinen Auftritt hatte, streiten sich die Eltern und schreien sich an. Das Kind bringt beide Ereignisse in Verbindung – und meidet fortan die „phobische Situation“.

Dabei lassen sich Zirkusbesuche noch vergleichsweise einfach umgehen. „Klaustrophobiker, also Menschen mit Angst vor engen Räumen, trauen sich zum Beispiel oft nicht durch einen Tunnel, fahren riesige Umwege auf dem Weg zur Arbeit“, berichtet Schoch. „Anstelle des Aufzugs nehmen sie selbst bei Hochhäusern die Treppen und geben dafür Fitness-Gründe an. Das kann die Lebensführung stark beeinträchtigen.“

Erfolgsquote bei 80 Prozent

Trotzdem sucht nur ein Bruchteil der Betroffenen professionelle Hilfe, vielen gilt die Phobie als Zeichen von Schwäche, die sich vor allem Männer – Frauen lassen sich doppelt so oft behandeln – nicht eingestehen wollen. Dabei kann kein Seelenleiden so gut bezwungen werden wie die Angststörung. Die Erfolgsquote liegt bei über 80 Prozent. „Neben Artzney, die allerdings nicht an die Ursache gehen, gibt es vor allem die Verhaltenstherapie“, berichtet Expertin Schoch. Bedeutet: Die Patienten setzen sich ihren Ängsten aus.

Bei der „systematischen Desensibilisierung“ in kleinen Schritten und gaaanz entspannt. Beim „Flooding“ auf einen Schlag, wie bei Clownphobikerin Kris Eason. Nach fünfzehn Minuten mit Mr. Giggles macht sie zwar immer noch laute Geräusche. Aber es ist ein Lachen.

Timo Lokoschat

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