Anarchie auf der Straße
BOHMTE - Ampeln, Vorfahrtschilder, Bordsteine, Straßenmarkierungen – abgeschafft. Das niedersächsische Städtchen Bohmte übt die Anarchie, zumindest im Straßenverkehr.
Seit dieser Woche gibt es an der zentralen Kreuzung der 7500-Einwohner-Gemeinde Bohmte keine Schilder mehr, dafür Bäume, Laternen und rote Pflastersteine. Dazwischen wuseln Fußgänger, Radler, Autofahrer, selbst Rollstuhlfahrer – gemeinsam auf einer großen Fläche. „Dass es so reibungslos funktioniert, hätte selbst ich nicht gedacht“, sagt Gemeinde-Sprecherin Sabine de Buhr-Deichsel. Sie hat das verkehrsberuhigende Projekt „Shared Space“ – auf Deutsch: geteilter Raum – mit initiiert.
Über den heute rot gepflasterten Platz wurden vor ein paar Wochen noch täglich 12500 Autos per Ampelsystem geschleust. Jetzt gilt hier außer der Rechts-vor-Links-Regel und Paragraf 1 der Straßenverkehrsordnung sonst nicht viel.
Ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksichtnahme, darauf basiert das von der EU geförderte Pilotprojekt. De Buhr-Deichsel beschreibt das so: „Gibt es einen Zebrastreifen, fühlen Sie sich in Sicherheit. Gibt es keinen, achten Sie genauer auf den Verkehr, sind langsamer und vorsichtiger.“
Vorbild Niederlanden
In den Niederlanden wird das Konzept seit Jahren umgesetzt. Die Idee des Verkehrsplaners Hans Mondermann basiert auf dem sozialen Verhalten aller Verkehrsteilnehmer – und siehe da: Der Verkehr wurde flüssiger. Bis zu zehn Minuten lässt sich dadurch beim Durchqueren einer Stadt einsparen – Mitdenken statt Ampelmännchen.
Bohmte könnte in Deutschland Modellcharakter haben. Bürgermeister und Straßenplaner besuchen das Städtchen rege. Auch Martin Wagner, zweiter Bürgermeister von Vaterstetten, war vor Ort – und bleibt skeptisch. „Wir müssen die Testphase in Bohmte abwarten. Dann sehen wir, ob so etwas in Bayern überhaupt genehmigt werden würde“, sagt Wagner.
Gebhard Wulfhorst, Professor für Verkehrsplanung an der TU München glaubt hingegen an „Shared Space“. „70 Prozent der Deutschen meinen, es gibt zu viele Schilder“, sagt er. Durch den Schilderwald fühlen sich viele überfordert, auch können mancherorts die Fahrer die ganzen Informationen nicht schnell genug verarbeiten. „Shared Space“ fordert den Fahrer zum aktiveren Mitdenken auf. „Ein Fußgänger weicht auf den Radlweg aus, weil er die Tische eines Cafes auf dem Bürgersteig umqueren muss. Zack, hat man den Konflikt zwischen Radler und Fußgänger“, sagt Wulfhorst. Durch das Nebeneinander sind alle Verkehrsteilnehmer gleichberechtigt, keiner hat auf der Straße den Vorrang.
Auch in München?
„Shared Space“ – eine Idee für München? „Auf der Lindwurmstraße geht das sicher nicht“, sagt Wulfhorst, „aber in einzelnen Zentren von München wäre das eine mögliche Alternative.“
Anne Kathrin Koophamel