9/11 in New York: Eine verwundete Stadt und ihr Trauma

Bis heute sind die Bilder der Flugzeuge, die am 11. September 2001 in die World Trade Center flogen, unvergessen. Was wurde aus den Helden von Ground Zero? Und was weiß man heute über die Opfer?
von  cah, scb
11.09.2001, USA, New York: Rauch steigt aus den brennenden Zwillingstürmen des World Trade Center auf, nachdem entführte Flugzeuge in die Türme in Manhattan geflogen sind.
11.09.2001, USA, New York: Rauch steigt aus den brennenden Zwillingstürmen des World Trade Center auf, nachdem entführte Flugzeuge in die Türme in Manhattan geflogen sind. © Richard Drew/AP/dpa

Bob Beckwith wird langsam vergesslich. Manchmal stutzt der 89-Jährige mitten im Satz. Dann fragt er seine Frau, worüber er gerade geredet hat. 

Doch an den Moment vor 20 Jahren, als er Arm in Arm mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten vor der Weltöffentlichkeit stand, wird der ehemalige Feuerwehrmann sich immer erinnern. Es waren die Tage nach den Anschlägen vom 11. September 2001 und Beckwith grub mit Hunderten Helfern in den Trümmern des World Trade Center nach Leben. Dann besuchte George W. Bush Ground Zero.

Bob Beckwith: Held und Opfer von 9/11

"Wir hatten keine Ahnung, dass der Präsident kommt. Und falls wir es wussten, hatten wir es vergessen", erzählt Beckwith, der tagelang unermüdlich nach dem vermissten Sohn eines Freundes suchte. Er stand gerade auf einem zerstörten Feuerwehrwagen, als Bush auftauchte. "Und er kommt geradewegs auf mich zu, und er streckt den Arm aus, und ich ziehe ihn hoch." Die Bilder, die folgen - Bush mit Megafon und Beckwith - gehen als Symbol amerikanischen Durchhaltewillens um die Welt. 20 Jahre später ist der Feuerwehrmann noch immer eines der Gesichter der Anschläge des 11. September, Held und Opfer zugleich.

"Und er kommt geradewegs auf mich zu." Der damalige US-Präsident George W. Bush (l.) mit Feuerwehrmann Bob Beckwith (M.).
"Und er kommt geradewegs auf mich zu." Der damalige US-Präsident George W. Bush (l.) mit Feuerwehrmann Bob Beckwith (M.). © Eric Draper/Handout/White House/

Die Tage im Jahr 2001 gehörten zu den schlimmsten seines Lebens, sagt Beckwith. Er war längst pensioniert, doch als das World Trade Center auch über Hunderten Feuerwehrleuten zusammenstürzte, entschied er sich, seinen Kameraden zu helfen. "Ich kannte einige von diesen Jungs. Vor vielen Jahren habe ich mit ihren Vätern zusammengearbeitet."

Daniel Libeskind über Ground Zero: "Nichts darf dort jemals wieder gebaut werden"

Zwei Jahrzehnte, nachdem Beckwith mit seiner Schaufel in dem Trümmerfeld grub, erfüllt das Geräusch plätschernden Wassers den ehemaligen Ground Zero. Nach dem Willen seines Erbauers soll sich das Rauschen mit dem eigenen Herzschlag vermischen und so der fast 3.000 Opfer des schwersten Terrorakts der Geschichte des Landes gedenken. Die quadratischen Brunnen symbolisieren die früheren Grundrisse des World Trade Center, an ihrem Rand sind die Namen der Opfer graviert.

"Nichts darf dort jemals wieder gebaut werden", dachte Stararchitekt Daniel Libeskind, als er wenige Wochen nach den Anschlägen im Regen zum felsigen Fundament der Türme hinabstieg. "Es war eine unheimliche, unheimliche Leere. Wenn du unten in der Grube bist und zurück auf die Straßen von New York schaust, sehen die Leute aus wie kleine Ameisen", sagt er.

Die Vision des Architekten, einen Erinnerungsort zu schaffen und das neue Hochhaus an den nördlichen Rand des Areals zu verbannen, wurde Wirklichkeit. Die Horrorszenen aus New York, für so viele die inoffizielle Hauptstadt der Welt, blieben aber im Gedächtnis. Unvergessen sind auch die Opfer, deren Bilder weltweit erschütterten.

Bis heute wurde nicht zweifelsfrei geklärt, wer der "Falling Man" war

So zum Beispiel die komplett mit Staub eingedeckte "Dust Lady" Marcy Borders, die nach dem 11. September zehn Jahre lang nicht arbeiten konnte. 2015 schließlich starb sie mit 42 Jahren an Krebs. Oder "The Falling Man" , ein an der Fassade des Wolkenkratzers kopfüber hinunterstürzender Mann.

Ein Mann stürzt sich in die Tiefe. Seine Identität ist bis heute unklar.
Ein Mann stürzt sich in die Tiefe. Seine Identität ist bis heute unklar. © Richard Drew/AP/dpa

Es wurde nie zweifelsfrei geklärt, wer der "Fallende Mann" war. Und auch die Identität von vielen weiteren Toten bleibt unbekannt - die Deutsche Mechthild Prinz arbeitete genau daran. Die heute 63-Jährige aus dem Rhein-Sieg-Kreis kam in den 1990er Jahren für einen Forschungsaufenthalt nach New York und blieb. Als Gerichtsmedizinerin für die Metropole meldete sie sich am 11. September 2001 direkt für die Nachtschicht.

"Dieser Zusammenbruch, der hat ja alles pulverisiert - Schreibtische, Computer. Da waren viele Leichen natürlich auch fragmentiert", erinnert sie sich. Auf der letzten Vermisstenliste der Anschläge in New York stehen 2.753 Menschen. In der Gerichtsmedizin und bei Prinz in der forensischen Biologie wurden in den Tagen und Wochen danach 289 intakte Leichen und fast 22.000 Leichenteile angeliefert.

Identifizierung der Opfer dauert bis heute an

Alles, was aussieht wie menschliches Gewebe und größer ist als ein halber Daumen, wird getestet. Die Ergebnisse werden abgeglichen mit Informationen und Material, das Hinterbliebene abgegeben haben. Die Arbeit ist damals noch nicht digitalisiert, DNA-Proben gehören nicht zur Routine. "Das war rund um die Uhr, Tag und Nacht. Ich glaube, ich war zwei Tage zu Hause bis Dezember", erinnert sich Mechthild Prinz.

Die Arbeit dauert noch immer an. Erst 60 Prozent der Opfer sind heute identifiziert. Prinz glaubt nicht, dass jemals alle Identitäten festgestellt werden können. "Und ich glaube, dass manche von den Leichen spurlos verschwunden sind durch den Zusammensturz und die Feuer." Trotzdem sei es wichtig, weiterzumachen - "weil es den Opferfamilien versprochen worden ist".

Und während New York trotz Corona-Rückschlägen wieder blüht, zahlten viele Helden von 9/11, die tagelang Giftstoffen ausgesetzt waren, einen hohen Preis. Bob Beckwith muss in ein paar Tagen wieder in die Klinik: "Ich werde zum vierten Mal operiert, wegen bösartiger Melanome in meinem Gesicht." Er nennt es den "Krebs des 11. September".

Anschläge auf World Trade Center: Minutenprotokoll des Grauens

Rekonstruktion der Ereignisse vom 11. September 2001.
Rekonstruktion der Ereignisse vom 11. September 2001. © dpa

8.46 Uhr (Ortszeit): Ein Flugzeug kracht in den nördlichen der beiden Türme des World Trade Centers in New York. Augenzeugen glauben zunächst an ein Unglück.

9.03 Uhr: Ein zweiter Jet fliegt in den Südturm.

9.05 Uhr: US-Präsident George W. Bush wird beim Besuch einer Grundschule in Sarasota (Florida) informiert. Stabschef Andrew Card flüstert ihm zu: "Amerika wird angegriffen".

9.30 Uhr: Bush spricht vor Kameras von einer "nationalen Tragödie". Es handele sich "offensichtlich" um eine Terror-Attacke.

9.37 Uhr: Ein drittes Flugzeug kracht ins Pentagon. Ein Teil des US-Verteidigungsministeriums wird verwüstet. Das Pentagon, das Weiße Haus, weitere Ministerien und das Kapitol werden evakuiert.

9.59 Uhr: Der Südturm des WTC bricht zusammen.

Der zweite Terror-Jet steuert auf den Südturm zu und explodiert beim Aufprall in einem Feuerball.
Der zweite Terror-Jet steuert auf den Südturm zu und explodiert beim Aufprall in einem Feuerball. © picture-alliance / dpa/dpaweb

10.03 Uhr: Ein viertes Flugzeug stürzt südlich von Pittsburgh (Pennsylvania) nach einem Kampf im Cockpit auf freiem Feld ab. Passagiere hatten sich gegen die Entführer zur Wehr gesetzt. Diese wollten wohl Kurs auf das Weiße Haus oder das Kapitol nehmen.

10.28 Uhr: Der nördliche Turm des World Trade Centers stürzt ein.

12.16 Uhr: Die Bundesflugbehörde meldet, dass der Luftraum der USA gesperrt ist. Nur Militär- und Rettungsmaschinen fliegen noch.

12.36 Uhr: Präsident Bush versichert in einer Fernsehansprache, alle nötigen Sicherheitsvorkehrungen seien getroffen.

13.27 Uhr: In Washington wird der Notstand erklärt.

20.30 Uhr: Der US-Präsident kündigt im TV an, dass die Täter gnadenlos verfolgt werden: "Wir werden keinen Unterschied machen zwischen denen, die diese Attacken ausgeführt haben, und denen, die ihnen Schutz bieten."

Bin Ladens Killer-Kommando

Die Anschläge vom 11. September 2001 sind auf immer mit dem Namen des damaligen Al-Kaida-Anführers Osama bin Laden verbunden, der später von den Amerikanern in Pakistan getötet werden sollte. Hinter ihm standen eine Handvoll Drahtzieher - und die 19 Selbstmord-Attentäter, die in die Flieger stiegen, um sie als vollgetankte, fliegende Bomben einzusetzen. Vorbereitung und Durchführung der Anschläge kostete Al Kaida etwas weniger als eine halbe Million Dollar. So steht es im Bericht der überparteilichen US-Kommission zur Aufarbeitung von 9/11.

Bin Laden.
Bin Laden. © Epa/epa/dpa

Eine besondere Rolle dabei spielten die Mitglieder der Hamburger Terrorzelle. Der Ägypter Mohammed Atta galt als ihr Anführer. Die muslimischen Studenten trafen sich und sprachen mit zunehmender Intensität über den Dschihad gegen "Ungläubige". In einem Terrorcamp in Afghanistan wurden Mitglieder der Gruppe 1999 von Bin Laden für den seit langem von ihm geplanten Anschlag mit Flugzeugen rekrutiert. Die Todes-Piloten:

Mohammed Atta steuerte eine gekaperte Boeing 767 in den Nordturm des World Trade Centers. Atta, geboren 1968, hatte von 1992 bis 1999 in Hamburg studiert. Er stammte aus einer ägyptischen Mittelklassefamilie und begann offenbar erst in Deutschland, sich zu radikalisieren. 1999 reiste er für den "Dschihad" nach Afghanistan. Dem Bericht der US-Kommission zufolge traf er Bin Laden mehrmals persönlich. Atta begann seine Pilotenausbildung 2000 in den USA.

Mohammed Atta.
Mohammed Atta. © Ipol/--/dpa

Marwan Alshehhi, geboren 1978, saß als Pilot in der United-Airlines-Maschine, die den Südturm traf. Der Einschlag der Boeing 767 wurde von vielen Sendern live übertragen. Der aus den Vereinigten Arabischen Emiraten stammende Vertraute Attas war 1996 mit einem Militärstipendium in Deutschland zunächst nach Bonn gekommen, dann studierte auch er in Hamburg.

Hani Handschur (*1972) steuerte American-Airlines-Flug 77 ins Pentagon. Er war aus Saudi- Arabien zuerst 1991 in die USA gekommen, um Englisch zu studieren. 1999 bekam er seinen US-Pilotenschein. 2000 hielt er sich in Afghanistan auf, wohl in einem Terrorcamp. Dort erfuhren Al-Kaida-Anführer von seiner Pilotenlizenz und wählten ihn als weiteren Piloten für den Anschlag aus. Er reiste mit einem Studentenvisum in die USA ein.

Siad Jarrah (*1975), Sohn einer wohlhabenden Familie aus dem Libanon, begann 1996 in Greifswald einen Sprachkurs. Anfangs besuchte er noch Parties, bis zuletzt hatte er eine Freundin. Ab 1997 studierte er an einer Hamburger Fachhochschule Flugzeugbau. Er steuerte Flug 93 von United Airlines, der wohl das Kapitol oder das Weiße Haus in Washington zum Ziel haben sollte. Während des Fluges kam es zu einer Revolte der Passagiere, die die Terroristen daran hindern wollten, die Maschine für einen Anschlag zu nutzen. Kurz bevor sie überwältigt wurden, fragte Jarrah einen Mittäter dem Cockpit-Rekorder zufolge: "War es das? Ich meine, sollen wir sie runterbringen?" Die Maschine stürzte wenig später mit voller Geschwindigkeit in ein Feld im US-Bundesstaat Pennsylvania.

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