30.000 Tote bei Erdbeben: Von Hoffnungslosigkeit – und Wundern

Eine Frau sitzt alleine vor den Trümmern ihres Hauses. Sie harrt dort aus. Seit dem verheerenden Erdbeben, das hier vor einer Woche wütete, ist keiner gekommen, um ihre Angehörigen zu suchen. Wahrscheinlich ist die Familie tot, begraben von Gebäudeteilen ihres ehemaligen Zuhauses oder erfroren. Nachts herrschen in der türkischen Stadt Gaziantep Temperaturen um den Gefrierpunkt. Die Frau wartet darauf, dass die Leichen ihrer Angehörigen endlich geborgen werden.
Dieses Bild wird Uwe Grunert niemals mehr vergessen, sagt er der AZ. Der 56-Jährige aus der Nähe von Frankfurt ist seit Donnerstagnacht für die bayerische Hilfsorganisation Humedica im Krisengebiet nahe dem Epizentrum im Einsatz.

Die Zahl der Todesopfer ist gestern nach offiziellen Angaben auf über 30 000 gestiegen, in der Türkei sind mindestens 29 605 Menschen ums Leben gekommen. Aus Syrien wurden 3575 Tote gemeldet. Knapp 80 300 Verletzte wurden registriert. Laut Vereinten Nationen könnte die Opferzahl noch auf 50 000 oder mehr steigen. Das Beben der Stärke 7,7 im türkisch-syrischen Grenzgebiet hat unermessliches Leid gebracht.
Viele Retter sind seit Tagen im Einsatz, darunter Grunert und zwei weitere Humedica-Einsatzkräfte, die von München aus losgeschickt wurden, um sich einen Überblick über die Notlage zu verschaffen (AZ berichtete). Nach 26 Stunden und drei Stunden Schlaf erreichten sie in der Nacht auf Donnerstag ihr erstes Ziel: Adana, Türkei. Der Flieger sei völlig überbucht gewesen, erzählt Grunert der AZ. "Viele Menschen wollen in das Krisengebiet, ihren Familien helfen, Angehörige suchen."
Noch am Flughafen sehen Grunert und sein Team offensichtlich erschöpfte Hilfskräfte, mit Spitzhacke und Hammer ausgestattet, schlafend auf dem Boden: "übermüdet, völlig fertig". Vermutlich haben sie gerade ihre Schicht beendet. Mit dem Auto fahren die Helfer weiter nach Gaziantep - insgesamt eine "beschwerliche Anreise".
Grunert, Musiker und geschulter Koordinator, läuft gerade durch eine Notunterkunft nahe dem Epizentrum, die für all die nun obdachlosen Menschen eingerichtet wurde, als er am Samstag mit der AZ telefoniert. Immer wieder bricht der Empfang ab. In dem Camp, wie der 56-Jährige das Notlager bestehend aus Großraumzelten nennt, leben aktuell etwa 900 Obdachlose, schätzt er. Und es gebe unzählige weitere solcher Unterkünfte. Auch Menschen, deren Häuser noch stehen, suchen hier Schutz. Zu groß ist die Gefahr vor Nachbeben, zu hoch das Risiko, dass Gebäude doch noch einstürzen. Viele trauen sich nicht zurück in ihr eigenes Heim.
In dem Lager bekommen die Menschen Decken, denn es ist "bitterkalt" in der Nacht. Ohne diese Zuflucht würden viele auf den Straßen erfrieren, meint Grunert. Um die Zelte herum seien "überall Trümmerhaufen, zerstörte Häuser, die wie Pfannkuchen in sich zusammengefallen oder einfach umgekippt sind". Eigentlich will er das Wort nicht aussprechen, doch beschreibt er den aktuellen Zustand mit Hoffnungslosigkeit. "Jetzt noch auf Lebende zu hoffen, wäre fatal." Trotzdem suchen Hilfsorganisationen und Einheimische immer weiter. "Die türkische Bevölkerung leistet Unmenschliches."
Die Bevölkerung leistet Unmenschliches
Und tatsächlich geschehen inmitten des Leids täglich Wunder: Immer wieder werden unter Schutt und Gebäudeteilen Überlebende gefunden. In der Provinz Hatay sind eine schwangere Frau und ihr Bruder nach 140 Stunden sowie ein sieben Monate altes Baby aus einem eingestürzten Gebäude gezogen worden. In der Stadt Kahramanmaras ist ein 26-Jähriger gerettet worden. In Antakya ist ein fünf Monate altes Baby nach 134 Stunden lebend geborgen worden, ebenso ein Bub (6), der 137 Stunden lang unter Schutt begraben war.
Die drei Humedica-Helfer waren die vergangenen Tage damit beschäftigt, sich vor Ort einen Überblick zu verschaffen, haben Camps und Krankenhäuser besucht, mit Behörden und NGOs gesprochen. Bei Gaziantep werden sie jetzt ihr medizinisches Lager aufschlagen.
Grunert und sein Team haben alles dafür vorbereitet und werden nun von weiteren Einsatzkräften der Kaufbeurer Hilfsorganisation - bestehend aus Ärzten und Koordinatoren - abgelöst. Im Gepäck haben sie Medizin für die Behandlung von 3000 Patienten sowie Zelte und Wasseraufbereitungsfilter, teilt Humedica mit. In der Nacht zu heute sollten die Einsatzkräfte eintreffen.
Im Hintergrund ertönen während des Gesprächs mit Grunert immer wieder Sirenen. Wie eine Naturgewalt innerhalb weniger Minuten so viel Zerstörung anrichten kann, findet er unfassbar. Doch es müsse irgendwie weitergehen. Mit dem Ende des Erdbebens seien die Probleme nicht gebannt. "Es muss geholfen werden."
Erdbebenkatastrophe in der Türkei und Syrien: So können Sie helfen
Das Erdbeben in der Türkei und Syrien forderte bereits über 40.000 Todesopfer, unzählige Menschen sind verletzt, verloren zudem ihr gesamtes Hab und Gut. Wer spenden möchte, kann dies unter anderem beim speziellen Spendenkonto der Stadt München tun:
Überweisungen an die Stadtsparkasse München | IBAN DE86 7015 0000 0000 2030 00 | Verwendungszweck "Erdbebenhilfe"
Die Eindrücke zu verarbeiten, dafür hatte der Helfer bis jetzt keine Zeit, sagt er. Zu viele Aufgaben habe es im Krisengebiet gegeben. "Man funktioniert einfach weiter." Ein gutes Team, "das auffängt, mit dem man das Erlebte teilen kann und in dem man sich gegenseitig mit Humor wieder aufpäppelt", helfe. Doch die eigentliche Aufarbeitung beginne erst jetzt, nach dem Einsatz. Heute fliegt Grunert zurück nach Deutschland. Er komme mit dem Gesehenen klar, sagt er, "aber es berührt mich natürlich".
Spenden an Humedica e.V.:
Sparkasse Kaufbeuren, IBAN: DE35 7345 0000 0000 0047 47